Montag 19.8.24 – Medellín (Ruhetag 4)

Zu sieben Uhr fahren wir mit dem unbepackten Tandem zur Stelle, an der die Straße von sieben bis 13 Uhr für Autos gesperrt ist. So früh sind noch nicht sehr viele Menschen unterwegs, es werden aber minütlich mehr, vor allem Läufer*innen, aber auch Radfahrer*innen und eine Skaterin. An allen Straßenkreuzungen stehen Ordner*innen mit Inder-Shirts, d.h. diese Straßensperrungen sind von der Regierung in Medellín initiiert. An „wichtigen“ Kreuzungen müssen wir teilweise trotzdem anhalten, wenn die Querstraße grün hat. Trotzdem ist es toll, die etwa sechs Kilometer lange Strecke auf der mehrspurigen Straße einfach sorglos fahren zu können und alle paar Meter freundlich von Inder-Mitarbeitenden gegrüßt zu werden. Der „Hinweg“ Richtung Süden geht mehr bergauf und dauert ein ganzes Stück länger als der „Rückweg“ Richtung Norden. Die Temperatur ist um diese Zeit richtig angenehm, in der Nacht ist es bis auf 16°C abgekühlt, das passiert hier gar nicht so häufig. Um acht sind wir zurück am Hotel, und nachdem Viktor schnell geduscht hat, frühstücken wir.
Anschließend machen wir uns auf den Weg zur Alpujarra-Metrostation (die dritte, die in der Nähe des Hotels liegt), dem Treffpunkt unserer heutigen Free-Walking-Tour. So eine Tour haben wir ja schon in Cartagena mitgemacht und für ein gutes Konzept befunden. Wir sind extra früh dran, weil wir planen, noch einen Kaffee trinken zu gehen. Beim Hotelfrühstück gibt es Kakao, der hier in der Region typisch zum Frühstück ist. Er ist allerdings eigenartig gewürzt, Viktor vermutet Muskatnuss. Aufgrund des heutigen Feiertags sind die Cafés in der Nähe der Metrostation leider alle geschlossen. Der Suchradius wird größer, und tatsächlich sehen wir ein geöffnetes Restaurant, das auch Kaffee anbietet. Kaum haben wir einen Fuß hineingesetzt, werden wir von Gilberto begrüßt (siehe Beitrag letzter Woche), der mit zwei Touristen an einem Tisch sitzt. Dummerweise hat Viktor ihm gestern per WhatsApp geschrieben, was wir heute machen 🙁 , und er hat sich ebenfalls für die Tour angemeldet. Er hat anscheinend sofort zwei andere Touristen geangelt, die auch schon so früh für eben diese Tour dort waren. Viktor überhört später, wie er ihnen ebenfalls anbietet, sie im Stadtteil Bello herumzuführen. Gilberto ist zwar ein ganz netter Kerl, aber seine „Geschäftstaktik“ ist dann doch etwas zu aufdringlich und intransparent.
Wir trinken also schnell einen Kaffee und gehen dann zu fünft zum Treffpunkt. Als bereits vor zehn Uhr alle 14 Teilnehmenden anwesend sind, geht unser Guide Milo (eigentlich Camillo) schon mit unserer angenehm kleinen Gruppe los. Er spricht ein sehr gut verständliches Englisch und ist einer der erfahrensten Guides bei Real City Tours.
Zunächst klärt er uns auf, dass alle auf ihre Wertsachen achtgeben sollen und selber verantwortlich sind. Wir setzen uns irgendwo in den Schatten, und nachdem er alle anwesenden Nationalitäten erfragt und sie unseren Namen zugeordnet hat (Wahnsinn, und das merkt er sich über die gesamte Tour) erklärt er zunächst sehr anschaulich die noch nicht sehr alte Geschichte Medellíns.
Bis zur Kolonisation durch die Spanier lebten nur wenige kleinere indigene Gruppen in den Bergen rund um das heutige Medellín. Mit Hilfe von Sklaven, die über Cartagena ins Land gebracht wurden, beuteten die Spanier die Goldvorkommen in den hiesigen Bergen aus. Die indigene Bevölkerung wurde gewaltsam und durch eingeschleppte Krankheiten dezimiert. Medellín blieb aber bis in die 1850-er Jahre eher klein und unbedeutend. Erst als die Industrialisierung begann, wurde eine Eisenbahnstrecke zum wichtigsten Fluss „Rio Magdalena“in Richtung Westen gebaut, und es kamen immer mehr Einwohner nach Medellín. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versiebenfachte sich die Bevölkerung. Es siedelten sich Industrien und Banken an und mit ihnen auch wohlhabendere Menschen. Andererseits wuchs auch die ganz arme Bevölkerung in den Bergen rund um Medellín, vorwiegend Binnenflüchtlinge aus den ländlichen Regionen Kolumbiens aufgrund der andauernden Bürgerkriege, später auch durch sehr viele Geflüchtete aus Venezuela, das früher ein Teil Kolumbiens war. Diese beiden „Schichten“ sind aufgrund der speziellen Geographie nie zu einer Stadt zusammengewachsen, es waren eher zwei Städte. Lange Zeit wurde vor allem Kaffee angebaut und gehandelt. Die ersten mafiösen Strukturen bildeten sich, als hohe Steuern auf Tabak und Alkohol erhoben wurden, und sich der Schmuggel dieser Produkte nach Kolumbien lohnte. Als in den USA und Europa die Nachfrage nach Kokain (Anfang der 80er bis Mitte der 90er Jahre) stieg, drehte sich die Schmuggelrichtung quasi um, und die Mafia begann, diese Nachfrage durch den Kokainexport aus Kolumbien über ihre existierenden Schmuggelnetzwerke zu stillen. So begann die wirklich schwierige Zeit Kolumbiens mit der Gewalt von Drogenkartellen, Guerillas und Bürgerkriegsparteien nebeneinander.
1992 wurde das von Pablo Escobar – den unser Guide Milo nur als „der, dessen Namen nicht genannt wird“ bezeichnet – geführte Kokain-Kartell zerschlagen. Nach seinem Tod kämpften verschiedenste Gruppen (FARC, ELN, CAP) besonders in der Comuna 13 um Macht und Kontrolle der Kokain-Handelswege (Zugang zur karibischen Küste). Im Jahr 2000 griffen rechte Paramilitärs (AUC) in den Kampf ein. Medellín wurde zur gefährlichsten Stadt der Welt nach Mordrate (357 Morde pro 100.000 Einwohnern). Die gestern erwähnte Operation Orion beendete diese Kämpfe in 2002 blutig.
2004 begann der Bürgermeister „Sergio Fajardo“ damit, neue städtebauliche Entwicklungsprojekte durchzuführen, um die abgehängten Stadtteile in den Bergen besser an Medellín anzubinden und in die Stadt zu integrieren. Insbesondere die Seilbahnen (ab 2007) mit Anschluss an die Metro und die Rolltreppen (2011) sind daher auch als „sozialer Städtebau“ zu verstehen. Medellin wurde 2013 auch aus diesem Grund zur innovativsten Stadt der Welt gekürt.
Ehemals gefährliche Plätze wurden erhellt, bepflanzt, in Sportstätten umgewandelt, viele Bibliotheken gebaut, ein kostenlos zu nutzendes Leihrad-Netz insbesondere in Metro-Nähe eingerichtet, und, und, und.
Trotzdem arbeiten immer noch 56% der Bevölkerung „informell“ (Schwarzarbeit sowie Mini-Selbständigkeit) und 60% liegen mit ihrem Einkommen unter 400 U.S.-Dollar monatlich.
Besonders die Corona-Pandemie und die politische Lage in Venezuela belasten Kolumbien und haben an einigen Stellen auch wieder zu Rückschritten geführt.
Neben dem Besuch von weiteren Plätzen und Straßen erfahren wir auch noch, dass Kolumbien das „Land der 1000 Rhythmen“ ist, dass, obwohl es sehr katholisch ist, es trotzdem auch sehr „open-minded“ ist (z.B. bei den Themen Abtreibung, Same-Sex-Marriage und LGBTQ), dass die Bevölkerung schlechte Dinge gut verdrängen und sich an positiven Kleinigkeiten sehr erfreuen kann (er erwähnt explizit das 1:1 von Kolumbien gegen Deutschland im WM-Vorrundenspiel 1990 in Italien), dass Botero der Stadt 23 Skulpturen geschenkt hat, unter der Bedingung, sie öffentlich zugänglich zu machen und vieles mehr. Nachdem wir fast alle noch das typische Getränk aus Zuckerrohr-Saft, Zitronensaft und Eis probiert haben, beendet Milo die Tour an einem Platz, an dem bei einem Konzert in den 90ern eine Botero-Figur durch einen Sprengsatz zerstört wurde. Botero selbst hat anschließend gefordert, die Figur solle als Mahnmal dort stehen bleiben und eine gleiche neue zum Danebenstellen gespendet.
Mit viel neuem Wissen verabschieden wir uns von den Deutschen, Schweizerischen, Griechischen, Norwegischen, Australischen (evtl. noch weitere) Reisenden (und von Gilbert) und verbringen die nächste Zeit mit der Blog-Aufarbeitung, ersten Planungen der nächsten Etappen und dem Schreiben positiver Google-Bewertungen für unseren Guide Milo. Außerdem versucht Jutta mit auf dem Rückweg gekauften Chlortabletten, die den schönen Namen „Razz-Fazz“ tragen, ihre stinkenden Shimano-Sandalen (das einzige Paar Schuhe seit Santa Barbara) zu desinfizieren, mal schauen, ob es wirkt.
Zu einem frühen Abendessen (damit noch im Hellen) radeln wir zu einem Italiener in der „San Diego-Mall“, wo wir abgefangen werden, als wir das Tandem hineinschieben wollen, und es draußen stehen lassen müssen. Ein „Aufpasser“ hat für ein Trinkgeld ein Auge darauf.












Dienstag 20.8.24 – Medellín (Ruhetag 5)
Wir gucken gleich morgens im den Tracker für das erwartete Paket: nichts Neues! Das bedeutet, wir können zumindest nicht gleich vormittags zu dem Warmshowers-Menschen fahren, an dessen Adresse es geschickt wurde, um es abzuholen. Was machen wir statt dessen? Die Motivation ist nicht sehr groß. Viktor probiert eine ganze Weile, jemanden ans Telefon zu bekommen. Manchmal scheint die Nummer nicht vergeben zu sein, manchmal gerät man in eine Endlos-Warteschleife mit Werbung, mehrmals hört man Musik mit einer Kinderstimme, die irgendwelche Zahlen aufsagt, aber niemals bekommt man jemanden ans andere Ende.
Wir beschließen, die Zeit zu nutzen und das Memory-Museum zu besuchen. Als wir schon unterwegs sind, sehen wir, dass dieses dienstags geschlossen ist. Dann fällt uns alternativ der Kulturpalast ein und wir gehen in die Richtung. Auf dem Weg trinken wir noch schnell einen Kaffee, da es zum Frühstück nur Saft gab.
Im Kulturpalast müssen wir vor dem kostenlosen Eintritt unsere Ausweise vorzeigen, und es wird an der Security mit einer Logitech-Webcam ein Foto von uns gemacht (wie an der Grenze bei der Einreise). In der unteren Etage befinden sich Ausstellungen verschiedener Künstler, in den Obergeschossen sind eine Bibliothek, Büros, Seminarräume und noch weitere Ausstellungsräume. Ganz oben gibt es zwei Aussichtsterrassen, eine im zuerst fertiggestellten Teil, der an eine Kirche erinnert, die zweite im später fertiggebauten, schlichteren Teil.

Wir kommen am Ende ohne Abmeldung bei der Security wieder heraus und probieren anschließend, ins Museum von Antioquia zu gehen. Da wir dort aber Eintritt zahlen müssten, lassen wir das doch und schlendern weiter. Viktor probiert zwischendurch weiter, bei der Post anzurufen – weiterhin erfolglos. Wir gehen in das „Centro Commercial Palacio Nacional“, der Shopping Mall im alten Palastgemäuer mit Säulen-Wandelhalle, um es uns mal genauer von innen anzuschauen. Beim ersten Besuch hatten wir nur die zahlreichen Schuhgeschäfte (im Erdgeschoss) gesehen, heute sehen wir auch die Kleidungsetage (erstes Obergeschoss) – alle Schuhe und Kleidungsstücke hier sind gefakte Markensachen, hat unser Guide Milo gestern erzählt. In den oberen Etagen ist eine riesige Anzahl Bilder in allen kleineren und größeren Räumen ausgestellt, die teilweise mit Presiangaben ausgeschildert sind. Wir fahren nicht mehr ganz nach oben, weil man sich so viele Bilder eh nicht richtig anschauen kann.

Bevor wir ins Hotel zurückgehen, trinken wir noch ein(e) „Pony“. Dieses Getränk gab es auch schon in Panama, und wir müssen es doch wenigstens mal probieren. Es ist eine Art Malzbier, noch etwas süßer und mit Vanille aromatisiert. Wie wir beobachtet haben, wird es hier von relativ vielen Menschen zum Frühstück getrunken.
Im Hotel geht es dann weiter mit den Anrufversuchen bei der Post. So ein bisschen wird man dann ja doch bekloppt, wenn man ständig nur Ansagen wie diese hört:
Irgendwann bekommt Viktor dann unter der Nummer der Post-Zentrale in Bogota doch eine Frau ans Telefon. Sie erklärt, dass für das Paket noch Zoll zu zahlen ist. In den nächsten Tagen würde an der Zieladresse eine Karte eingeworfen, auf der dann steht, wie der Betrag zu begleichen ist. Viktor fragt, ob das nicht auch per E-Mail ginge, was die Frau bejaht. Nach vielen notwendigen Angaben schickt sie schließlich eine Mail, in der ganz unten steht, dass wir über 400.000 Pesos (über 100 Euro) zahlen müssen, bevor wir das Paket ausgeliefert bekommen. Wenn wir nicht angerufen hätten, hätten wir mehrere Tage verloren (bzw. Tage in Medellín gewonnen 😉 ). Warum hatte der Tracker nur schon den 16.8. als Auslieferungsdatum angegeben?
Das Bezahlen gestaltet sich daraufhin noch schwierig: man kann nur eine Kolumbianische Kreditkarte angeben, und die haben wir nicht. Wieder hilft uns Camillo, der Warmshowers-Host. Er stellt seine Kreditkarte zur Verfügung, und wir zahlen ihm dann bei Abholung den Betrag in bar.

Angeblich wird 24 bis 48 Stunden nach Eingang des Geldes der Tracker aktualisiert, erst dann können wir abschätzen, wie lange wir noch hier in Medellín bleiben müssen. Alles nicht so toll, nur ein paar Wochen, nachdem wir schon in Panamá festgesessen haben.
Unser gestriger Guide Milo veranstaltet heute Abend in einer Bar einen „Workshop“ zu Kolumbianischer Musik und hat in einem Instagram-Post die Frage nach dem hinterlegten Rhythmus plaziert. Wir shazamen das Stück und schreiben eine Antwort (Paso). Viktor wird unsicher und schreibt noch drei weitere Möglichkeiten. Jutta bekommt eine Nachricht, dass sie ein Bier gewonnen hat, Viktor aufgrund der mehrfachen Versuche nicht. Eigentlich haben wir keine große Lust, hinzugehen, Beginn ist um 20 Uhr, und die Bar ist gut vier Kilometer entfernt.
Wir laufen dann doch schon sehr zeitig los, wollen unterwegs etwas essen und quasi dann unterwegs entscheiden. Der Weg ist fast nur geradeaus, der Feierabendverkehr voll im Gange. An den Kreuzungen stehen zusätzlich zu den Ampeln überall Verkehrspolizisten. Ampeln alleine scheinen nicht auszureichen. Wir haben uns vorher ein italienisches Restaurant in einer Nebenstraße, ca. einen Kilometer vor der Bar, ausgesucht. Dort angekommen, ist es geschlossen 🙁 . Vielleicht ist das unser Glück! Etwas weiter in derselben Straße ist der Italiener Pomodoro (auch wenn wir gestern schon beim Italiener waren), und dort fühlen wir uns super wohl. Wir sitzen hinten im Garten, dass Essen ist toll, Viktor bekommt endlich seine Gnocchi und Jutta vegetarische Lasagne mit Spinat (beim Essen fällt ihr auf, dass sie so etwas schon sehr lange nicht mehr hatte). Glücklich sattgeworden gehen wir dann auch noch weiter zur „Dopamina-Bar“, wo der Workshop stattfindet.
In einer kleinen Gruppe lernen wir bei Milo in einer guten Stunde fünf Rhythmen aus verschiedenen Teilen Kolumbiens kennen, müssen sie teilweise auch tanzen und bekommen Trink- und Essproben dazu. Macht Spaß und lässt uns eine Weile unsere Frust-Gedanken an das Paket vergessen.
Milo erklärt uns anschließend noch, wie das hier in Kolumbien mit den unterschiedlichen Preisen für z.B. Strom funktioniert, und welches Viertel welche der sechs Schichten bedeutet. Grundsätzlich ist es seit 1994 in Kolumbien so, dass Wohnviertel in eine der sechs „Strata“ eingeordnet werden. Unser Hotel liegt z.B. in „La Candelaria“ in Strata 4, der Stadtteil „El Poblado“ in 6, die Dopamina-Bar in „Los Laureles“ in 5. Je höher diese Strata, desto höher sind nicht nur die Mieten (ähnlich dem Mietspiegel in Deutschland), sondern auch alle anderen Preise für Strom, Wasser, Gas, Müllabfuhr, Stadtreinigung etc. Diese wohnortabhängige Umverteilungskomponente existiert zusätzlich zum gestuften Einkommenssteuersatz. Verdient man gut und wohnt in einem der unteren Strata, zahlt man auch nur die geringeren Gebühren. Das sorgt für ein wenig mehr Durchmischung der sozialen Milieus. Milo bestätigt uns, dass das System voll akzeptiert ist, nur wenige es kritisieren und keiner der derzeit relevanten politischen Akteure es derzeit abschaffen will. Wir sind sehr erstaunt.
Mit einem Taxi fahren wir schließlich zurück zum Hotel. Der Zimmerservice hat uns heute das Laken (Sobre-Sabana) zum Zudecken weggenommen, Viktor fragt an der Rezeption danach, und als wir schlafen gehen wollen, entpuppt sich das Laken als riesiges Spannbettlaken. Zum Zudecken tatsächlich prima, denn wir ziehen es uns in der Nacht nicht ständg gegenseitig weg!

















Mittwoch 21.8.24 – Medellín (Ruhetag 6)

Wir gehen gleich morgens los in Richtung der „Casa de la Memoria“, dem Memory-Museum, in dem die gewaltsame Geschichte der Stadt Medellín verarbeitet wird. In dieser Ecke der Stadt sind wir noch nicht gewesen, obwohl es gar nicht so weit weg liegt. Es gilt auch wieder kostenloser Eintritt, wir müssen nur online einige Angaben über uns machen. Die App für den Audioguide gibt es nur für iOS (Jutta hat extra ihr Android mitgenommen, nun denn), aber die Ausstellung ist so interaktiv, dass es auch gut ohne geht. Zur gleichen Zeit ist eine größere Schulklasse dort, so dass die verschiedenen Bildschirme, Schaukästen etc. zumindest zu Beginn nur mit Wartezeit anzuschauen sind. Von den Informationen ist leider nur ein geringer Teil auch ins Englische übersetzt, mit den Vokabeln auf Spanisch hat Jutta reichlich Probleme. Das Museum war in erster Linie für Einheimische errichtet worden, aber jetzt sind wohl 75% der Besucher Touristen aus dem Ausland, erfahren wir später. Das Museum erklärt unter verschiedenen Gesichtspunkten eindrucksvoll die jüngere Geschichte Medellins. Jutta bleibt z.B. eine Frau in Erinnerung, die im Alter von elf missbraucht worden ist, viele Jahre später per Zufall einem Ihrer Peiniger begegnet ist und ihm dann erwidert hat, die Vergangenheit wäre vergangen, und jetzt müsse man nach vorne schauen.
Nach dem Museum laufen wir zum Ideal-Fahrradladen, weil dieser heute unser Tandem erwartet, und niemand auf die WhatsApp reagiert hat, die ihnen mitteilen sollte, dass wir noch auf die Ersatzteile warten. Wir geben also persönlich Bescheid und bekommen eine andere WhatsApp-Nummer mitgeteilt, der wir Nachrichten schreiben können.
Von dort gehen wir noch einmal ins Café am Antioquia-Museum, nehmen heute kalte Kaffees und bekommen sie in Bechergläsern serviert. Eigenartiges Gefühl, aus solchen zu trinken, wenn man sie sonst beruflich für „giftigere“ Dinge nutzt. Den Nachmittag vertrödeln wir im Hotel (keine Nachricht von der Post).
Abends um 20 Uhr beginnt eine von „Siclas Medellín“ organisierte „Sicleada“. Das wissen wir von dem Warmshowers Host, und da wir morgen ja eh noch nicht weiterfahren können, wie ursprünglich geplant, wollen wir mitfahren. Es ist, ähnlich der Critical Mass in Berlin, eine Tour vieler Radfahrender auf den Straßen der Stadt. Die Strecke wird hier aber vorher geplant und veröffentlicht, in Berlin verläuft die Route spontan. Die Polizei ist hier in keinster Weise involviert. An gelben Westen erkennbare Freiwillige („Voluntarios“, unser Warmshowers-Kontakt Camillo ist auch einer von ihnen) „korken“ die Querstraßen, damit der gesamte Verbund zusammenbleibt und sich keine Autos dazwischenschieben. Am Treffpunkt werden wir mit dem besonderen Rad natürlich häufig angesprochen und von Camillo, dem Warmshowers Host, erkannt. Wir sind erstaunt, wie wenig konfrontativ das Ganze hier während der Tour abläuft. Aus Berlin kennen wir da ganz andere Szenen von ausrastenden Autofahrern, die Fahrräder quer über die Straße werfen, um endlich weiterfahren zu können. Was den Verkehr und die Wartzeiten im Stau angeht, sind die Menschen hier irgendwie gelassener.
Gegen 23:00 Uhr sind wir wieder zurück im Hotel und sind heute dann auch mal länger alleine mit dem Tandem im Dunkeln unterwegs. Was uns an den ersten Tagen noch richtig nervös gemacht hätte ist jetzt schon fast Routine. Wir fühlen uns nicht unsicher, aber etwas Respekt vor der Gegend rund um unser Hotel bleibt natürlich bestehen.
Das ist vielleicht die Gelegenheit, noch ein paar unangenehmere Aspekte der Lage unserer Unterkunft in der Innenstadt (La Candelaria) zu erwähnen. Von den circa 6.000 Obdachlosen der Stadt (vor Corona waren es ca. 4.000) scheint ein sehr großer Teil in diesem Stadtviertel zu leben. Wir beobachten diese Menschen täglich dabei, wie sie die Müllbeutel am Straßenrand öffnen und alles Verwertbare heraussuchen. Getränkedosen und Getränkeflaschen, aber auch Kleidung und vor allem Nahrung. Alle Essensreste, die sie finden können, werden genutzt und meist sofort gegessen. Es sind so viele Obdachlose, dass man leider schnell abstumpft. Sie schlafen selbst tagsüber auf den Bürgersteigen und an den Straßenecken und man kann nicht einmal wirklich sicher sein, dass sie noch leben. Aber alle Passanten gehen an ihnen mehr oder weniger achtlos vorbei, also was sollen wir Touris da schon tun? An vielen Hausmauern liegen Haufen verrichteter Notdurft und wir beobachten einen Obdachlosen aus den Augenwinkeln dabei, wie er tagsüber in aller Öffentlichkeit hockend seine Notdurft in eine Plastiktüte verrichtet.


Ein Beispiel für den „informal work“-Sektor, ein Getränkestand, an dem wir immer wieder vorbeikommen, wenn wir etwas in der Stadt unternehmen.

„Glu-Glu-Glu“ (Gluck-Gluck-Gluck) … „Bienvenidos a la Promoción“ (Willkommen beim Sonderangebot) … Ansage des Straßenverkäufers, der Limonaden („Gaseosas“) für 1.000 Pesos (ca. 25 Euro-Cent) und Bier („Cervezas“) für 2.000 Pesos verkauft. Die Ansage läuft in Dauerschleife den ganzen Tag über einen Lautspecher an seinem mobilen Stand.


















Donnerstag 22.8.24 – Medellín (Ruhetag 7)
Schon wieder eine ganze Woche an einem Ort und bislang kein Ende in Sicht. Immer noch keine Aktualisierung im Paket-Tracker der Post!
Um halb zehn beginnt eine von uns gebuchte Tour ins Stadtviertel Moravia in der Comuna 4. Da dies kein touristisches Viertel ist, nutzt der Guide (wieder Milo) keinen Lautsprecher mit Mikrofon und Verstärker, und die Gruppe ist entsprechend klein. Treffpunkt ist an der Metrostation Caribe, und wenn man über die Fußgängerbrücke Richtung Osten geht, landet man sofort in Moravia. Mit unserer Gruppe kommt auch Gloria, die dort lebt und als „Community Leader“ tätig ist. Zuerst sind wir auf einem Hügel unterwegs. Dieser Hügel ist in den siebziger Jahren die Müllkippe Medellíns gewesen.


Die Eltern von Gloria waren schon in den Sechzigern aus der Region Cali hierher geflohen und betrieben zunächst Landwirtschaft. In den siebziger und achtziger Jahren kamen immer mehr Flüchtende, und als dann der Müll der ganzen Stadt kam, war er für diese sowohl Beschäftigung (Wertstoffe, Recycling, Baumaterial) als auch Versorgungsmöglichkeit, so dass sich die Bevölkerung damit arrangierte. Ein Foto von 1985 zeigt den gesamten Hügel mit einfachen Häusern und Welblechhütten bebaut. Die Politik hatte bis Anfang der neunziger Jahre andere Probleme (Gewaltkriminalität, Guerillas, Banden, Drogenkartelle) und griff nicht ein.
Dann wurde aber im Zuge der Transformation Medellíns eine neue Siedlung im Westen der Stadt errichtet, und alle Bewohner konnten kostenlos dorthin umziehen und erhielten eine Eigentumswohnung geschenkt (was aber nicht alle angenommen haben). Der Müll wurde ab dem Zeitpunkt an einen weiter von der Stadt entfernten Ort gebracht, und der ganze Müllberg wurde zu einem großen innerstädtischen Garten/Park umgebaut, mit einer eigenen Gärtnerei ganz obenauf. Der Rest Moravias (quasi an den Hügel angrenzend und relativ flach) wurde ebenfalls (auch durch Unterstützung der Community-Leader) lebenswerter gemacht, mit besserer Infrastruktur, Orten zum Verweilen, einem „Haus für Alle“ (eine Art Kulturzentrum).
Dann kam auch hier die Corona-Pandemie und warf die Stadt in vielen Dingen zurück. Die Menschen, die vom Straßenverkauf lebten, durften das Haus nicht mehr verlassen bzw. hatten keine Einkünfte, weil keine Kunden mehr auf der Straße unterwegs waren. Kolumbien war wohl sechs Monate im radikalen Shutdown. Menschen begannen wieder, ohne zu fragen Häuser auf der ehemaligen Müllkippe zu bauen und den Garten/Park zu zerstören. Sie verlegten selbständig Wasser, Gas und Elektrizität – wir sehen beim Rundgang an vielen Stellen oberirdisch laufende Wasserleitungen. Heute ist zwar noch etwas grün erhalten, und auch die Gärtnerei gibt es noch, aber es leben wieder eine ganze Menge Menschen dort, wo eigentlich ein Park war. Eigentlich wird von der seit acht Monaten amtierenden, eher rechtsgerichteten Regierung der Stadt erwartet, diesem Phänomen ein weiteres Mal Einhalt zu gebieten und eine ähnliche „Umsiedlung“ zu wiederholen, aber bisher ist noch nichts geschehen.
Als wir einen Stop am Sportplatz vor der Schule machen, sprechen uns immer wieder Schüler*innen an. Wir lernen, dass in Kolumbien die Grundschule fünf Jahre, die Weiterführende sechs Jahre dauert, dass Schulbildung kostenlos ist, in zwei Schichten vormittags und nachmittags abläuft (die rasant ansteigende Bevölkerungszahl kann nur so abgedeckt werden) und die Schulen im internationalen Vergleich nicht besonders gut sind. Dafür haben die Universitäten einen sehr guten Ruf. 50 % der Schulabgänger beginnt sofort zu arbeiten, die andere Hälfte teilt sich auf: entweder Universitätsstudium oder Duale Ausbildung über Sena. Und immer wieder wird wiederholt, dass 56% der Bevölkerung informell arbeitet, und 88% keine Einkommenssteuer zahlen müssen, weil sie unter dem Mindesteinkommen liegen. Die Mehrwertsteuer ist daher auch die wichtigste staatliche Einnahmequelle. Außerdem gibt es eine Transaktionssteuer von 0,4% auf alle Kontobewegungen (also Einzahlungen + Auszahlungen), die ebenfalls an den Staat fließt.
An einem Straßenstand bekommen wir alle vegane Empanadas mit frisch hergestellter Sauce zum Probieren. Das sind „Kirchen-Empanadas“ (Empanadas de Iglesia) – sie wurden für die Fastenzeit entwickelt und sind nur mit Kartoffel gefüllt. Bislang haben wir überall nur fleischgefüllte Empanadas gesehen, aber in der Nähe von Kirchen kann man anscheinend auch diese Art antreffen.
An einem Zwischenhalt, an dem es um die Befreiungs-Theologie und die Rolle der Priester in Moravia geht, wird uns außerdem nahegelegt, uns das Video „Misa Columbiana“ anzuschauen. Wir schauen uns den circa 20-minütigen Dokumentarfilm am späten Nachmittag im Hotel an und erhalten so noch etwas mehr Kontext zur heutigen Führung durch Moravia. Irgendwie werden wir das Gefühl nicht los, dass die gestern beschriebenen Obdachlosen im Viertel rund um unser Hotel genauso vom „Müll der Reichen“ leben, wie damals in den 70igern die Bevölkerung von Moravia. Und damit wir uns nicht falsch verstehen: Uns ist völlig bewusst, dass wir bei diesem „Müll der Reichen“ von unserem Müll sprechen, von dem wir auf dieser Jahrestour deutlich mehr erzeugen, als wir zuhause jemals für uns akzeptieren würden.
Zum Abschluss der Tour dürfen wir in den Erinnerungsraum im Kulturhaus. Das Kultuhaus wurde mithilfe einer Nichtregierungsorganisation (NGO) namens „Oasis Urbano“ erbaut, die von zwei Berliner Archtiekten in Medellín gegründet wurde. Es hat unter anderem einen Innenhof und ein großes Auditorium. Gloria erzählt uns von den über 100 Community-Leadern und dass sie vor einigen Jahren im Zuge eines Architektur-Studierenden-Austauschs nach Berlin reisen durfte. Sie ermuntert uns, bei uns zuhause ehrenamtlich für unsere Mitbürger aktiv zu werden. Auch wenn wir etwas für Moravia tun wollen, dürfen wir uns jederzeit an sie wenden. Sie trägt die ganze Zeit schon einen Beutel mit dem Brandenburger Tor mit sich. Am Ort des früheren Hauses ihrer Familie ist jetzt ein Kindergarten, der zu Ehren ihrer Mutter deren Namen „Mama Chila“ trägt. Und, obwohl die Mutter noch lebt, ist ihr Gesicht ebenfalls als Ehrung an eine Häuserfront gemalt. Die Mutter wurde übrigens vom Staat enteignet, nachdem sie das Kaufangebot für ihr Haus wegen des zu niedrigen Angebotspreises nicht angenommen hatte. Gloria, ihre Mutter, Glorias Tochter und ein 11 Monate altes Enkelkind leben jetzt irgendwo zur Miete und hoffen auf späte Gerechtigkeit, nicht nur durch symbolische Gesten sondern auch finanziell.









Als wir nach Abschluss und Metrofahrt noch einen Kaffee trinken gehen (ca. 46 Stunden nach der Bezahlung der Zollgebühren) gibt es immer noch keine Neuigkeiten zur Auslieferung des Pakets. Wir sollten innerhalb von 24 bis 48 Stunden ein Update erhalten. Also weiter warten und eventuell wieder anrufen!
Zum Abendessen gehen wir heute in ein Café „Bohemio de Clausura“, das nur ein paar Straßenecken entfernt ist (und das wir erst gestern wahrgenommen haben, es steht außen nichts am Haus außer ein Baustellenschild). Wir essen eine Arabische und eine Mexikanische Bowl und sind froh, dass wir in dieser Großstadt immer wieder sehr gutes Essen finden.
Vor dem Bohemio stehen auf dem Platz einige Tische, an denen Schach gespielt wird. Teilweise tragen die Spieler grüne T-Shirts des lokalen Schachvereins. Viktor schaut eine Zeit lang bei einer Partie Blitzschach zu (2 Minuten Zeit für jeden Spieler). Vielleicht setzt er sich ja in den nächsten Tagen mal zu einer Partie hin.
Freitag 23.8.24 – Medellín (Ruhetag 8)
Heute nach dem Frühstück erreicht Viktor wieder einmal die Post (unser Sohn Julius hatte schon nachgefragt, weshalb die 1&1-Telefonrechnung so hoch ist – die gesammelten Telefonate mit der Panamaischen sowie der Kolumbianischen Post schlagen ins Kontor). Wir erfahren, dass unser sehnlichst erwartetes Paket bis zum 29. August ausgeliefert werden kann. Das heisst für uns: Es könnte jetzt jeden Tag eintreffen, aber evtl. auch erst in einer Woche! Wir sind geschockt!
Nach ein paar Atemübungen zum Beruhigen („Ommmmmmmmmmh“) 😉 verlassen wir doch das Hotelzimmer und wollen einerseits versuchen, uns um Ersatz für die Einstellschraube an unserer Rohloff-Schaltung zu kümmern, andererseits eine neue 2032-Knopfzellenbatterie für Viktors Helm-Rücklicht kaufen. Wir haben uns überlegt, dass wir mit funktionierender Schaltung auch einfach schon weiterfahren könnten. Das Paket könnte innerhalb Kolumbiens ja vielleicht mit einem Bus nachkommen. Auf unserer Busfahrt nach Medellín haben wir gesehen, wie dem Gepäckmenschen Pakete und sogar Paletten mit Eiern mitgegeben und dann an anderen Orten von den Empfängern abgeholt wurden.
In der Straße der vielen Fahrradläden fragen wir bei Ideal-Bike, bei denen wir das Tandem eigenlich nochmal warten lassen wollen (Ketten und Bremsscheiben prüfen, ggf. wechseln). Die haben keine passenden Einstellschrauben, aber wir werden in eine Querstraße geschickt, wo uns eine solche vielleicht durch Aufbohren einer normalen M5-Schraube hergestellt werden könnte. Auf dem Weg dahin liegt ein größerer Fahrradladen. Viktor zeigt dort die gebrochene Einstellschraube vor und tatsächlich hat der Laden ähnliche Einstellschrauben von normalen Felgenbremsen vorrätig. Sie sind zwar etwas kürzer aber wir nehmen mal drei Stück mit, um damit zu experimentieren. Eigentlich macht dieser Laden sogar einen besseren Eindruck als Ideal-Bikes, aber mit denen sind wir ja quasi schon zur Wartung des Tandems verabredet.
In einer Apotheke fragt Viktor nach der Batterie, wird aber in den Häuserblock gegenüber verwiesen. Wir schauen, welcher Laden es wohl sein könnte, da steht ein etwa zehnjähriger Junge mit einem kleinen Stand mit Batterien auf dem Bürgersteig. Wir bleiben stehen und werden sofort von ihm angesprochen. Jutta nimmt gleich eine 2032-er Batterie, aber der Junge greift eine Ziplock-Tüte, sucht darin herum und meint mit einer Batterie in der Hand, das wäre dieselbe. Viktor erfragt den Preis, er sagt 10.000 Pesos (ca. 2,50€). Das erscheint uns zu teuer, und wir lehnen ab. Der Junge sagt 8.000 Pesos. Wir fragen, ob auch 5.000 Pesos reichen. Er willigt ein! In diesem Alter schon ein toller Geschäftsmann – wir müssen an unseren zehnjährigen Neffen Theo denken, der das glücklicherweise noch nicht sein muss.
Anschließend überlegen wir uns, in irgendeine klimatisierte Mall zu gehen und entscheiden uns für die „Medellín-Mall“. Diese ist zu Fuß zu erreichen. Der Weg dorthin führt an sehr vielen Obdachlosen vorbei. Mitten auf dem Bürgersteig ziehen sich zwei davon gerade Spritzen auf. Und dann kommen wir am Ziel an, das sich als eine große Halle mit vielen kleinen Schuhständen entpuppt, also leider doch keine klimatisierte Mall ist.
Wir steigen daher in einen Metrobus, eigentlich mit dem Ziel der „Unicentro-Mall“, mit einmaligem Umsteigen. Da in der Gegenrichtung aber eine Station „Berlín“ heißt und wir ja keinen Zeitdruck haben, fahren wir erst in die Gegenrichtung, um ein Foto zu machen. Kurz vor Berlín, das ganz schön weit oben am Berg liegt, entdeckt Viktor eine Bar Borussia in gelb/schwarz. Der Bus ist leider nicht klimatisert (wie in Panamá) und wir fahren dann recht lange zurück und weiter Richtung Mall, steigen dann aber nicht mehr um, sondern gehen die restlichen Kilometer zu Fuß.
Das ist ein Glück, denn auf dem Weg kehren wir im „Magellan-Lab“ auf einen Kaffee (und ein Baguette) ein. Der Besitzer, Willy Magellan, spricht uns auf Deutsch an. Seine Mutter kommt aus Müllheim (Markgräfler Land – Partnerstadt von Hohen Neuendorf), er selber ist in Frankreich geboren und aufgewachsen. Außerdem reist er viel und ist 2018/19 von der Magellan-Straße nordwärts mit dem Fahrrad gefahren. Er kommt immer wieder an unseren Tisch, zeigt uns Bilder und gibt uns Tipps. Sein Baguette bekommt er jeden Morgen von einem Deutschen Bäcker in der Nachbarschaft, der Thomas heißt. Die Welt ist doch irgendwie klein!
Die Unicentro-Mall durchlaufen wir dann einmal, mehr zum Zeitvertreib, und gehen dann zu Fuß zurück zum Hotel. Google schickt uns einen ganz tollen Weg durch grüne, ruhige (!) Wohnviertel, Parks, über zwei Fußgängerbrücken. Am Fluss gibt es eine größere Sandfläche zur Naherholung und eine einladende Promenade. Irgendwo steht ein Bauzaun, beschriftet mit „Transformation“, aber es gibt einen Kontrolleingang zum Gelände. Dort findet gerade eine kostenpflichtige Ausstellung statt, aber wir werden über das Ausstellungsgelände eskortiert, als wir fragen, ob der Weg für Fussgänger passierbar ist.
Nach einer Pause im Hotel (inklusive Regenpause) gehen wir noch einmal im Rooftop-Burgerladen in der Nähe essen. Der Laden brummt, wir müssen warten, dass ein Tisch frei wird. Aber es lohnt sich. Viktor ist begeistert vom Blauschimmelkäse-Burger, der mit echtem Roquefort belegt zu sein scheint. Es gibt hier also nicht nur den säuerlichen, weißen Quietsche-Käse „Queso Costeno“.
Da wir jetzt auf jeden Fall noch über das Wochenende in Medellín bleiben werden, buchen wir uns für Sonntag noch eine Tagestour nach „Guatape“, wo es eine sehenswerte Altstadt und einen großen Felsen zu besichtigen (und besteigen) gibt. Und für morgen nehmen wir uns den mit der Seilbahn erreichbaren Arvi-Park vor, ein 1.700 Hektar Naturschutzgebiet in den Bergen am Rande von Medellín, in dem es geführte Wanderungen gibt.















Samstag 24.8.24 – Medellín (Ruhetag 9)
Wir wollen heute den Arvi-Park besuchen, und es wird geraten, dieses gleich früh zu tun, also fahren wir so zeitig mit der Metro los, dass wir zur Parköffnung um neun dort sein können. Wir müssen erst mit einer Gondel drei Stationen hoch bis Santo Domingo und dort umsteigen (und extra Geld bezahlen) in eine weitere Gondel bis Arvi. Am Umsteigeort steht ein Aufsteller, dass der Betrieb unterbrochen ist – ab neun Uhr kann man aber fahren, erfahren wir, und stellen uns an. Diese zweite Gondel bewegt sich viel schneller und steiler als die erste und dauert trotzdem gute 20 Minuten. Es geht zunächst über bebaute Gegend, dann noch vereinzelte Häuser, und dann über sehr viel grün.
Oben ist es richtig frisch, und es erwartet uns ein Markt mit Kunstwaren und Verpflegung direkt an der Gondelstation. Es wurden eigentlich geführte Wanderungen empfohlen, aber als wir uns Tickets kaufen wollen, sagt man uns, dass eine geführte, einen Kilometer lange Tour für Ausländer 60.000 Pesos (ca. 15 Euro) kostet, und wenn man die lange, vier Kilometer lange Runde ohne Führung laufen will, 60.000 Pesos, also nochmal obendrauf, wenn man beides machen möchte. Mit jedem Ticket darf man zweimal die Toilette benutzen – so etwas hatten wir auch noch nicht. Nach einiger Überlegung nehmen wir nur das Ticket für die vier Kilometer lange, ungeführte Tour.
Es gibt für die Tour keine Wanderkarte mehr, weil zu viele das Papier unterwegs weggeschmissen haben. Uns wird also der Weg erklärt und wir sollen mit dem Handy ein Foto der Wanderkarte machen.

Es sollen unterwegs aber auch Schilder aufgestellt sein. Wir werden von einem Mitarbeiter durch ein Tor geführt und losgeschickt. Auf dem Gelände des Arvi-Parks haben die Spanischen Kolonialherren seinerzeit Tagebau betrieben. Heute wachsen hier sehr viele Orchideen und Bromelien zwischen und auf den auch dicht stehenden Bäumen. Diese Art von Vegetation (auf den Schildern steht „neotropical“ – neutropisch?) ist tatsächlich neu für uns auf dieser Tour – wir haben ja schon viel Grün gesehen, aber dieses hier ist anders. Komischerweise hören und sehen wir keine Tiere, bis auf Insekten. Der Weg ist größtenteils sehr schmal, teilweise steil bergauf und bergab und nicht wenig beschwerlich. Im Gegensatz zur Stadt ist es so schön ruhig, wir hören nur zweimal andere Gruppen reden und einmal ein bisschen Autoverkehr. Also richtig erholsam … besonders für die Ohren und das Hirn! Der Rundweg ist allerdings nur 2,4, nicht 4 km lang, das hatten wir evtl. falsch verstanden (auf der Karte unten rechts stand es auch so 😉 ).












Wieder am Ausgangspunkt kaufen wir an einem Stand zwei Empanadas mit Kartoffel und einen Quinoa-Linsen-Bratling und fahren dann wieder nach Medellín. Wir nehmen Euch da mal ein Stück mit, denn die Fahrt über den letzten Hügel und der Blick hinunter nach Medellín sind schon ziemlich eindrucksvoll.
Falls Ihr Euch auch schon mal gefragt habt, wieso das Stahlseil einer Seilbahn kein Ende hat … hier ist die Erklärung.
In Santo Domingo muss man in dieser Richtung das eine Gondelgebäude verlassen, über die Straße zur anderen Linie gehen und dort wieder die Stufen hoch. Das ist gegen jede Intuition, und deshalb steht ein Mitarbeiter der Seilbahn beim Aussteigen bereit und erklärt das allen Passagieren (inklusive Zitat „en contra cada intuición“). Auf dem Hinweg ging es zum Umsteigen einfach über die Fußgängerbrücke, die beide Seilbahn-Linien verbindet. Die ist aber wohl eine Art „Einbahnbrücke“.
Wieder in unserem Stadtviertel angekommen, gehen wir noch mit unseren Getränkeeinkäufen einen Kaffee in „El Bohemio de Clausura“ trinken und warten den ersten Regen ab. Während des zweiten Regens sind wir im Hotel, Viktor repariert die Schaltung des Tandems mit den gekauften Einstellschrauben und macht den Ölwechsel bei der Rohloff-Schaltung, der alle 5.000 Kilometer fällig ist. In der Anleitung steht, dass man 25 ml Spülöl zu den 12,5 ml Getriebeöl dazugeben soll. Am Ende soll man dann alles absaugen. Wir bekommen auch nach über einer Stunde Wartezeit insgesamt nur 25 ml abgesaugt, der Rest bleibt wohl im Getriebe und wird mit 12,5 ml frischem Öl wieder aufgefüllt. Hoffen wir mal, dass das alles seine Richtigkeit hat.






Unser Hinterrad hat seit Cartagena auch eine merkliche Unwucht, was aber zum Glück nicht an den neuen Felgen liegt. Die sind bislang top. Aber der Mantel sitzt irgendwie nicht richtig. Da in unserem Paket aus Deutschland auch neue Schwalbe Pick-Up Mäntel enthalten sind, werden wir das Problem dann hoffentlich auch schnell lösen. Dabei können wir dann auch gleich die Felgen inspizieren und schauen, ob sich nach 500 Kilometern möglicherweise schon wieder erste Risse zeigen.
Heute gehen wir erstmals hier im Hotel abendessen. Das Angebot ist überschaubar: Burger, Schnitzel oder Spieße vom Rind, Schwein oder Huhn. Der Burger mit Huhn ist heute leider aus. Die Lateinamerikanische Musik ist irre laut, aber dafür erhalten die Gäste die Fernbedienung für „YouTube Music“. Ein Pärchen ganz vorne am Fernseher fragt uns nach einem Musikwunsch. Viktor fällt spontan nur „99 Luftballons“ ein, weil er etwas Deutsches wünschen möchte, das international vielleicht bekannt ist. Und schon bald läuft Nena in der Rooftop-Bar unseres Hotels in Medellin. Da ein Gast ein „Rocky Horror Picture Show“ T-Shirt trägt, schiebt Viktor gleich noch „Hot Patootie – Bless my Soul“ von Meatloaf nach und erhält dafür ein Thumbs-Up vom Nachbartisch.





Sonntag 25.8.24 – Medellín (Ruhetag 10)

Wir haben uns für eine Tagestour nach Guatapé angemeldet und müssen dafür um 7:20 Uhr an der Metro „Estadio“ sein. Wir gehen zeitig los, um noch irgendwo etwas zu frühstücken und landen im Peter Pan. Viktor gibt einem Obdachlosen einen Kaffee und ein Brötchen aus, und nur ein paar Minuten später fragt schon der nächste – so etwas spricht sich offenbar sehr herum.
Der Bus steht an der Metrostation bereit und ist vollbesetzt. Wir sind vierzig Teilnehmende, haben aber zwei Guides: David für die Spanisch sprechenden, Felipe für die Englisch sprechenden (er hat einen Großvater aus Deutschland, ist aber selber aus Venezuela). Wir fahren ca. zwei Stunden und überholen auf der Fahrt in die Berge zahllose Radfahrer, auch schon ziemlich weit oben – die müssen richtig früh aufgebrochen sein. An einem Paísa-Restaurant gibt es eine Pause, bevor es auf den kurvenreichen, steilen Teil der Strecke geht. Das erste Ziel ist der „La Piedra del Peñol„, ein Inselberg/Fels, auf den man über eine 705-stufige Treppe steigen kann (machen täglich wohl rund 3000 Menschen, als wir ankommen, ist es noch nicht so sehr voll). Der Aufstieg kostet 25.000 Pesos, der Abstieg ist gratis … 😉 … so erklären es uns jedenfalls die Guides. Sowohl am Fuß als auch oben auf der „Piedra“ gibt es viele Stände, die oben werden über eine Lastenseilbahn beliefert. Viktor zögert ein wenig, ob er sich wegen seiner Höhenangst (spanisch: „Vertigo“) den Aufstieg zutrauen will, überwindet sich aber und schafft es auch bis oben. Der Feuerwehrmann auf halber Höhe will ihm partout nicht das Tor zur Abstiegsseite öffnen und ihn umkehren lassen. Der schlimmste Teil sei doch schon geschafft – es sei ab dort nicht mehr so steil und die Treppe verliefe auch nicht mehr so weit außen. Auf zittrigen Beinen und mit beiden Händen rechts und links am Geländer geht es also weiter nach oben. Von oben hat man dann eine Wahnsinns-Aussicht auf den sehr zerklüfteten Stausee. Richtig genießen kann das vor allem eine von uns, den der andere denkt schon an den Abstieg, der sich aber als weniger schlimm herausstellt als der Aufstieg.

Der Stausee wird von 23 Flüssen gespeist, und gerade ist das Wasser ein paar Meter nierdriger als normal, weil dieses Jahr „El Niño“-Jahr ist. Im kommenden Jahr wird ein „La Niña“-Jahr erwartet, und dass der See sich dann wieder komplett füllt. Für die Flutung mussten zwei Orte umgesiedelt werden. Die Bevölkerung hat vorher von Landwirtschaft gelebt, was nach der Flutung zumindest zu Beginn durch Fischerei ersetzt wurde. Heute leben sie zu 95% vom Tourismus-Geschäft.
Nach dem Abstieg und haben wir noch etwas Freizeit und werden vor sämtlichen Restaurants laut begrüßt, die angebotenen Speisen werden angepriesen und wir werden mit einem freundlichen „a la orden“ (zu Ihren Diensten!) hineingebeten. Viktor trinkt einen Kaffee und filmt einen dieser „Restaurant-Schreier“ kurz von drinnen:
Dann fahren wir mit dem Bus weiter nach Guatapé, einem der Orte am größten See Antioquias. In früheren Zeiten haben in einer Straße die reicheren Menschen gelebt und ihre Häuser an den Sockeln mit Reliefs bunt verziert. Als die ersten Touristen kamen, um sich diese anzuschauen, hat der ganze Ort begonnen, die Häuser auf ähnliche Weise zu bemalen – heute ist es der farbenfroheste Ort von Kolumbien. Es ist zwar keine Pflicht, sein Haus so zu verzieren, aber der soziale Druck ist so hoch, dass wirklich jedes Gebäude bunt ist.






In zwei Gruppen (Spanisch und Englisch) erhalten wir eine Führung durch den Ort, bevor es in einem Restaurant ein inkludiertes Mittagessen gibt (vier Essen zur Auswahl, die schon auf der Hinfahrt getroffen werden musste). Wir sitzen mit zwei Dominikanern (aus der Dominikanischen Republik) am Tisch und erzählen uns gegenseitig von unseren Reisen. Sie schlagen uns vor, nach unserer Rückkehr zuhause einen großen Globus aufzustellen, auf den wir für jedes bereiste Land ein Selfie von uns kleben, das genau die Form des Landes hat.
Im Ort fahren massenhaft kleine bunte Taxis herum, sogenannte „Moto-Chivas“, und bieten den Touristen ihre Rundfahrt-Dienste an. Sie sind an die großen Partybusse (Chivas) in Medellín angelehnt.
Mit vollem Magen gehen wir bis zu einem Bootsanleger, der durch das Niedrigwasser ziemlich weit draußen liegt und über einen sehr steinigen „Weg“ – eher Seegrund – zu erreichen ist. Auf der einstündigen Bootsfahrt über einen kleinen Teil des Stausees werden wir unterhalten von einem typischen Sänger dieser Gegend, der herumgeht, unsere Herkunft erfragt und dann etwas zu dem Land oder der Stadt improvisiert. Dieser gesang wird hier in der Region Antioquia „Trova Paisa“ genannt.
Wieder an Land haben wir eine Stunde Freizeit in Guatapé, um vier ist Treffpunkt auf dem Hauptplatz vor der Kirche. Nach einem Kaffee teilen wir uns noch eine Süßspeise, die man in Kolumbien laut Felipe unbedingt gegessen haben muss, eine „Oblea Columbiana“. Das ist eine Art Sandwich aus zwei Oblaten, mit Hüttenkäse, Arequipe (karamelisierte, stark gesüßte, dickflüssige Kondensmilch) und Brombeer-Konfitüre gefüllt. Schmeckt besser, als es sich anhört.
Auf dem Platz vor dem kleinen Oblaten-Café spielt derweil ein außergewöhnliches Straßenmusik-Duo aus Cello und Gitarre.

Alle sind pünktlich am Treffpunkt, und es wird angesagt, dass wir pünktlich wieder in Medellín sein werden. Aber es ist Sonntag-Abend-Stau, und wir brauchen statt zwei Stunden leider drei Stunden für die 79 Kilometer zurück nach Medellín. Auf dieser Fahrt geht es durch einen sehr langen Tunnel, in dem weder Fahrräder noch Motorräder erlaubt sind.
Am Aussteigeort isst Viktor in einer Art Partymeile noch zwei Empanadas, bevor wir in einer „Botero-Metro“ zurück nach San Antonio fahren. Der ganze Zug ist wohl eine Ehrung des 2023 verstorbenen Künstlers. Wo sonst Werbung hängt, sind Verweise auf Kunstwerke von ihm (im Antioquia-Museum), und sein Konterfei klebt an den Stirnseiten mit einem „Gracias“. Selbst außen sind die Wagen mit seinem Namen beschriftet.

Nach dreizehn Stunden sind wir wieder im Hotel und verlängern unseren Aufenthalt wieder einmal (ansonsten müssten wir morgen weiterfahren).










Barbara
Razz Fazz erinnert mich an Warz-ab, das Mittel gegen Warzen 🙂
Hilft bestimmt.
Uwe Wüppermann
Man, ihr macht ja etwas mit, mit eurem Rad. Auf all unseren Reisen haben wir das noch nicht erlebt. Den Ölwechsel hättet ihr auch zu Hause machen können. Das geht so lange alles gut bei der Rohloff.
Dafür seid ihr jetzt qualifizierte Medellin Experten, das ist doch auch nicht schlecht.
Hoffentlich geht’s bald weiter und es funktioniert auch alles!
Grüße von Hokaido 🇯🇵
Sabine + Uwe
vmakowski
Tja, das ist wohl der Preis, den wir nun für unsere Tandem-Vorliebe zahlen müssen. Wir finden es immernoch super, so nah beieinander und immer gesprächsfähig unterwegs zu sein. Es ergeben sich auch ganz andere Begegnungen mit anderen Radfahrenden und den Menschen vor Ort, weil das Stufentandem sehr auffällig ist.
Aber die spezielle Technik (Teleskopierbarer Alurahmen, Rohloff Speedhub mit 3 m langen Schaltzügen, Lastenradfelgen und Lastenradreifen) und die geringe Gelände- und Berg-Fähigkeit eines Stufentandems (Stokerin kann nicht mit dem Körpergewicht arbeiten) sind schon eine besondere Herausforderung. Das haben wir unterschätzt. Aber das ist halt alles Teil des Abenteuers. Wir bereuen bisher keinen Augenblick.