Mit dem Stufentandem unterwegs in den Amerikas

Monat: August 2024

Woche 22 (26.8.24 – 1.9.24) – Medellín – Neira

Montag 26.8.24 – Medellín (Ruhetag 11)

Für heute haben wir uns nichts vorgenommen.Wir schlafen ein wenig länger und frühstücken im Hotel. Heute gibt es „Arepa Venezolana“, eine mit Fleisch und Käse gefüllte Maistortilla, die deutlich aromatischer ist als die Quesadilla, die es hier sonst immer zum Frühstück gibt.

Viktor beschäftigt sich vormittags noch mit den Videoaufnahmen der GoPro-Actioncam von der Sicleada am vergangenen Mittwoch, aber leider gibt es auf dem Laptop Kompatibilitätsprobleme zwischen der Schnittsoftware und dem GoPro-Videoformat. Beim erforderlichen Umwandeln und Zusammenschneiden der Videoclips geht die Audiospur verloren. 🙁

Am späten Vormittag entscheiden wir uns dann doch noch für eine Aktivität und machen uns auf den Weg zum „Museo de Antioquia“ an der Plaza Botero, in dem weitere Kunstwerke von Botero sowie aus seiner Sammlung internationaler Kunstwerke zu sehen sind, die er dem Museum noch zu Lebzeiten gespendet hat. Botero ist 2023 im Alter von 91 Jahren in Monaco verstorben.

Auf dem Weg dorthin gehen wir einen Kaffee im Bohemio – schon fast unserem Stammlokal – trinken. Viktor kauft an einem Straßenstand eine Packung „Solteritas„, weil Jutta sich in den letzten Tagen wiederholt gefragt hat, was denn wohl diese knallorangefarbenen runden Dinger sein können. Dazu bekommt er eine ebenso orange Creme. Im Café versucht er vergeblich, eine Solterita in die Creme zu tunken, aber die ist so fest wie Wackelpudding … de funktioniert kein „tunken“. Unsere „Stammbedienung“ wird befragt, kennt sich aus, grinst … und bringt dann einen Löffel und sagt etwas von „untar“, also „schmieren“. Viktor löffelt sich also die süße, gefärbte Creme auf das salzige, frittierte, gefärbte Teil, verschmiert es und stellt fest, dass Kinder das süße Zeug wahrscheinlich sehr gerne essen. Jutta verzichtet dankend.

Im Museum kann Viktor die Tüte mit dem Rest der Solteritas und der Creme einschließen lassen. Es wird uns erklärt, dass wir im dritten Stock beginnen sollen. Und das ist dann auch die einzige Erklärung. Das Gebäude ist mehrflügelig, und es gibt weder einen Rundgang noch eine hilfreiche Beschilderung. Die ganze Etage ist eine Botero-Etage, einerseits Werke anderer Künstler aus seiner privaten Sammlung (er wollte mit der Spende anderen, jungen Künstlern ermöglichen, sich internationale Kunst-Originale anschauen zu können, was ihm als jungem Mann nicht möglich war) und andererseits seine eigenen Werke.

Leider suchen wir die Kunstwerke zum Kreuzweg (Judaskuss, Kreuzigung), die wir gestern in der Metro gesehen hatten, heute in den Ausstellungsräumen vergeblich. Sie sind nicht Teil der Dauerausstellung und befinden sich teilweise als Leihgaben im Ausland.

Das Treppenhaus beherbergt ein großes Wandgemälde aus dem Jahr 1936 „El problema del petróleo y la energía“ (Das Problem des Erdöls und der Energie):

Es scheint also schon vor 88 Jahren klar gewesen zu sein, dass „Petroleum“ zu Problemen führt. Hat sich die Menschheit nicht sehr darum geschert…

Zwischen dem zweiten und ersten Stock brauchen wir etwas zu trinken. Im Untergeschoss gibt es ein Café, das man kaum findet, das aber ganz nett ist. Warum nur schildern sie hier nichts ordentlich aus?

Nach mehreren Stunden im Museum beenden wir den Besuch und gehen erst einmal zurück zum Hotel. Zu halb sieben sind wir mit dem Warmshowers-Gastgeber Camillo verabredet, nicht etwa, weil das Paket angekommen ist, sondern weil wir ihn zum Essen einladen wollen. Wir haben einen Italiener ausgesucht, der direkt bei dem Hochhaus liegt, in dem er wohnt. Er hat bis acht Zeit, weil er sich da mit den Siclas trifft, um die Sicleada für die kommende Woche zu planen. Die Route für diesen Mittwoch wurde schon letzen Montag geplant. Die Gruppe trifft sich also wöchentlich, um eine neue Route für die ebenfalls wöchentlich stattfindenden Touren zu planen. Das ist mal Engagement!

Camillo erklärt sich bereit, uns das Paket mit den Ersatzteilen im schlimmsten Fall nachzusenden. Wir haben uns jetzt eine Art Stichtag gesetzt; wenn das Paket nicht – wie von der Post angekündigt – bis Donnerstag eingetrifft, werden wir uns einfach wieder auf den Weg machen. Eventuell prüfen wir vorher noch die neuen Felgen auf möglich Risse.

Die Schaltung haben wir mit den hier gekauften Einstellschrauben wieder fit gemacht. Auch wenn es keine Original-Rohloff-Einstellschrauben sind, sollte das erstmal halten. Neue Bremsklötze haben wir seit Panama im Einsatz (gerade mal 500 km). Reifen, Ketten und Bremsscheiben sind nach nur 5.000 Kilometern sowieso noch nicht fällig. Die müssten noch problemlos ein paar tausend Kilometer durchhalten. Ursprünglich wollten wir ja hier in Medellín schon bei 8.000 Kilomtern liegen.

Kommt das Paket rechtzeitig an, werden wir die Reifen wechseln und die Ketten und Bremsscheiben bei „Ideal Bike“ in Medellín überprüfen lassen. Diese werden wir aber nur wechseln, wenn es wirklich erforderlich sein sollte. Andernfalls wird das Ersatzteilpaket bei Camillo gelagert, bis wir es unterwegs benötigen sollten. Er ist ein unheimlich netter und hilfbereiter Typ und erklärt sich sofort bereit, das Paket im Keller zu lagern bis wir es benötigen und er es uns irgendwo nach Südamerika nachschicken kann.

Dienstag 27.8.24 – Medellín (Ruhetag 12)

Wir haben nichts vor und verbringen die ersten Stunden des Tages damit, eine vermeintlich fehlerhafte Kreditkartenbuchung von einem Hotel in Guatapé am Samstag Abend zu reklamieren. In der App klappt dies nicht, ohne die Kreditkarte zu sperren (was extrem ungünstig wäre), und das Hotel anzurufen klappt ebenfalls nicht. Als Viktor nach draußen geht, um es von dort zu probieren, erfährt er, dass das Anrufen von Handynummern vom Hotel aus nicht klappt, egal von welchem Telefon. Er erzählt, was er vorhat, und der Hotelmitarbeiter ruft irgendwo an und reicht Viktor das Telefon. Die Dame am anderen Ende sagt, er wäre doch in dem Restaurant des Hotels essen gewesen. Viktor verneint dies, er wäre in keinem Hotel in Guatapé essen gewesen. – Doch! – Mit wem spreche ich denn? – Und da klärt es sich auf: die Dachterrasse unseres Hotels in Medellín ist gemeint, wo wir am Samstag essen waren. Die beiden Hotels haben denselben Besitzer, und wenn man hier oben mit der Karte zahlt, erscheint auf der Abrechnung das andere Hotel in Guatapé. Unten an der Rezeption passiert das nicht. Woher soll man so etwas, bitte schön, wissen.

Außerdem wechseln wir die Cleats von Juttas Sandalen an die Halbschuhe, die ab hier wieder mit transportiert werden müssen (waren im Paket aus Santa Barbara). Das Abschrauben von den Sandalen dauert etwas, erst muss mit dem Taschenmesser der ganze festgetretene Dreck aus den Schraubenköpfen gekratzt werden. Ab sofort fährt Jutta also mit Halbschuhen (und Socken – hoffentlich ist es nicht zu heiß) und hat dann aber abends Schuhe zum Wechseln.

Der Reifenhersteller Schwalbe reagiert heute endlich, nachdem wir es nochmal zweigleisig per E-Mail und über das Kontaktformular auf der Webseite probieren. Hier die Antwort auf unsere Vermutung, dass der Defekt der Felgen an den dickeren Karkassen der Pick-Up Lastenradreifen liegen könnte:


Sehr geehrter Herr Makowski,
vielen Dank für Ihre Anfrage und das damit verbundene Interesse an unseren Produkten!
Das von Ihnen geschilderte Schadensbild haben wir in der Vergangenheit bereits gesehen, jedoch unabhängig von Felgenmodell, Reifenmodell bzw. -Konstruktion und Größe.
Erfahrungsgemäß kommt es zu solchen Defekten, wenn eine Felge mit zu hohem Luftdruck, gepaart mit einer hohen Achslast überlastet wird. Auch die Speichenspannung, hohe Stoßbelastungen durch den Untergrund (z.B. Schlaglöcher, Kopfsteinpflaster etc.) sind weitere Punkte, welcher in Kombination mit den genannten Faktoren zu einer Überlastung der Felge führen können.
Was den Luftdruck angeht, so wirkt ein Reifen dieser (sic!) mit derselben Kraft auf die Felge (die Karkassen-Konstruktion hat keinen Einfluss, sofern der Luftdruck gleich hoch ist).
Aus Ihrer parallel eingesandten Mail lesen wir, dass bereits Versuche unternommen wurden, den Felgenhersteller zu kontaktieren.
Es tut uns daher sehr leid, jedoch bleibt auch uns hier nur der Rat, sich an den Felgenhersteller zu wenden, da nicht der Reifen Ursache des Schadens ist.
Wir hoffen, dass wir mit dieser Auskunft dennoch behilflich sein konnten und wünschen Ihnen viel Erfolg!
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Schwalbe-Team
Support Center | Internal Sales


Da wir am Anfang unserer Tour mit 3,5 bar Reifendruck bereits am unteren Wert lagen, der auf den Mänteln aufgedruckt ist, werden wir da wohl nicht mehr viel machen können. Wir sind schon auf 3 bar heruntergegangen, aber „schwammiger“ darf die Lenkung echt nicht mehr werden. Wir müssen also noch konsequenter Gewicht sparen und schlechte Wegstrecken mit Schlaglöchern oder Kopfsteinpflaster meiden, was in Südamerika …. ach lassen wir das. 😉

Da es gegen 10:30 Uhr noch keine Neuigkeiten zum Paket gibt, gehen wir ein paar Schrauben besorgen und nach einem Adapter für die Halterung der GoPro-ActionCam suchen, letzteres allerdings vergeblich. Vor der Rückkehr trinken wir noch einmal Kaffee aus Bechergläsern im Laboratorio del Café, das hat uns gefallen.

Jutta ergoogelt im Hotel eine Software, mit der man die GoPro-Videos inklusive Ton bearbeiten und umwandeln kann und installiert diese auf dem Laptop, während Viktor im Keller am Tandem und der GoPro-Halterung herumschraubt. Nach etwas Einarbeitung in den VSDC-Editor bekommen wir die Aufnahmen der Sicleada letzten Mittwoch hin, so dass jetzt ein Video mit Ton verfügbar ist.

Wer einen Eindruck von unserem Hotel bekommen möchte, hier ist ein GoPro Video:

Auch um 16:30 Uhr haben wir noch keine Nachricht über die Auslieferung des Paketes. Das wird also heute wieder nichts. Die Stimmung ist trotzdem nicht mehr ganz so mies wie gestern, denn wir wissen jetzt, dass wir am Freitag weiterfahren werden, wenn das Paket am Donnerstag nicht eintrifft. So haben wir einen klaren Plan und es ist ein Ende des Wartens in Medellín abzusehen.

Wir machen uns nochmal auf den Weg zur Plaza Botero, denn wir wollen das Restaurant am Museo de Antioquia ausprobieren. Das hat ein nettes Ambiente und Viktor will nochmal eine „Bandeja Paisa“ mit der obligatorischen Blutwurst probieren.

Unterwegs kaufen wir noch eine Packung Solteritas nach, denn die Hälfte der Creme ist noch übrig. Da muss sich noch jemand opfern und sie vernaschen.

Mittwoch 28.8.24 – Medellín (Ruhetag 13)

Heute geht es Schlag auf Schlag! Endlich!

Nach dem Frühstück ruft Viktor noch einmal bei 4-72, der Kolumbianischen Post, an, damit wir bestätigt bekommen, dass wirklich spätestens morgen die Auslieferung des Paketes geplant ist. Die Dame am anderen Ende sagt, sie hätten noch bis übermorgen (also Freitag) Zeit, aber wir könnten das Paket heute schon abholen kommen. Jutta reicht schnell den Kugelschreiber und einen alten Karton, dann wird die Adresse durchgegeben und die drei Dokumente, die mitzubringen sind (Zolldokument, Quittung über die Zahlung der Zollgebühren und Kopie des Ausweises) – und zwar zwingend auf Papier.

Wir versuchen, alles unten an der Rezeption drucken zu lassen: mit der geschickten E-Mail geht es nicht, also schickt Viktor alle Anhänge nochmal per WhatsApp. Dann kommen drei weiße Blätter Papier aus dem Drucker. Die Tinte ist entweder leer oder eingetrocknet. Aber zwei Blöcke vom Hotel entfernt soll es einen Druckerservice geben. Wir machen uns auf den Weg und haben zwei Personen vor uns. Während des Wartens schickt Viktor die Seiten an die neben dem Schalter hängende Mailadresse. Als wir an der Reihe sind, muss nur noch entschieden werden, ob schwarz-weiß oder in Farbe, und – zack – bekommen wir vier Seiten (Reisepass und Personalausweis jeweils einzeln) für 5000 Pesos. Mit denen in der Hand machen wir uns auf zur richtigen Adresse.

Nach einigen Metrostationen geht es ab der Station „Caribe“ zu Fuß durch nicht wirklich einladende Straßen, in denen wenige Menschen zu Fuß unterwegs sind. Beim ersten Versuch landen wir am Tor des Verkehrsministeriums, dort wird uns erklärt, wo wir wirklich hinmüssen. Die Einfahrt des Postgeländes ist durch eine Kette versperrt, ein Security-Mann bestätigt, dass wir hier richtig sind, und wir landen beim zweiten Versuch auch am richtigen Schalter. In der Halle stehen etliche Stühle in einer Art Warteraum – wir sind die Einzigen. Und ohne die befürchteten Probleme (z.B. weil die Adresse auf dem Personalausweis eine andere ist als die Adresse des Warmshowers-Gastgebers hier in Medellín, an den das Paket adressiert war) halten wir nach 25 Warteminuten glücklich unser Paket in den Händen.

Zurück gönnen wir uns ein Taxi. Im Hotel machen wir uns in der Tiefgarage sofort daran, die alten Mäntel gegen die neuen zu tauschen und die Schrauben am Stokersitz zu erneuern. Etwas nervig ist bei der Aktion das Bewegungsmelder-Licht, dass immer wieder neu durch Bewegungen aktiviert werden muss. Zum Glück ergibt die Kontrolle der Felgen beim Wechseln der Reifen keine Auffälligkeiten. Die Felgen zeigen nach den ersten 500 Kilometern seit Panama-Stadt keine Risse.

Das Mini-Taschenmesser von Jutta klebt nach dem Öffnen des Pakets ziemlich und lässt sich ohne Lösungsmittel nicht reinigen. Also wollen wir in einer Apotheke etwas Aceton kaufen. Der Apotheker schickt uns in eine Tienda, die sowohl Schreibwaren als auch Dinge für die Schönheit (Belleza) verkauft. Wir kaufen die kleinste Flasche (20 ml?), wischen das Messer einmal damit ab und geben der Dame die Flasche wieder zurück. Die guckt etwas komisch, und vielleicht verkauft sie sie noch ein zweites Mal – wir wollen sie aber nicht haben.

Fertig mit dem Tandem beschließen wir, es auch heute noch in die Werkstatt zu bringen (dann können wir die heutige Sicleada zwar nicht mehr mitfahren, aber das Rad hoffentlich morgen wieder abholen). Vorher müssen wir uns im Bohemio noch mit Kaffee und Gebäckstücken stärken, aber dann radeln wir zu Ideal-Bikes. Das klappt heute komplett ohne Google-Maps – wir sind schon lange genug in Medellín hier und kennen uns aus 😉 .

Im Radladen wird zuerst unser Ansprechpartner von irgendwo geholt. Nachdem ihm alles erklärt ist – die Bremsscheiben sollen kontrolliert und ggf. getauscht werden, die Ketten und Kettenblätter geprüft und ebenfalls bei Bedarf getauscht werden – geht er von irgendwoher den Radmechaniker holen, dem dann nochmal alles erklärt wird. Zu zweit begutachten sie alles und entscheiden, dass nur die Kette des Captains getauscht werden muss. Dabei soll das hintere Rohloff-Ritzel gedreht werden, um die bisherige Rückseite der Zähne zu nutzen, die noch nicht abgenutzt ist. Das neue Ritzel aus dem Paket nehmen wir dann erst bei 10.000 km in Betrieb.

Die vordere, lange Kette der Stokerin ist noch in gutem Zustand und die beiden Bremsscheiben sind noch „fast wie neu“ (beide nur 0,2 mm abgenutzt, mit Digital-Messschieber gemessen). Okay, dann sieht es auch so aus, als könnten wir morgen nachmittag oder allerspätestens Freitag vormittag das Tandem wieder abholen kommen.

Und wir werden ein Paket mit einigen der heute noch nicht benötigten Teile nach Lima schicken, was noch einmal ca. 3000 Anden-Kilometer weiter südlich liegt, um dann dort ggf. die restlichen Ersatzteile zu nutzen und z.B. die Kettenblätter auszutauschen. Wir werden einige Ersatzteile inkl. der alten Mäntel hier bei Camillo (dem Warmshowers-Gastgeber, der seine Adresse für das Paket bereitgestellt hatte) in Medellín lassen, von denen wir nicht abschätzen können, ob und wann wir sie brauchen werden. Die Mäntel sind noch nicht so weit abgefahren, dass sie nicht im Notfall noch als Ersatz dienen könnten. Camillo hat sich netterweise bereiterklärt uns ein Paket dort hinzuschicken, wo wir es benötigen.

Nur die Bremsscheiben werden wir weiter im Bordgepäck belassen, denn die müssen wir im Notfall selbst wechseln können, wenn sie auf irgendeiner langen Abfahrt überhitzen und den Geist aufgeben sollten.

Wir bekommen (in einem benachbarten Radladen) noch einen Shimano-Karton geschenkt, in den 26-Zoll-Reifen passen, und laufen so ziemlich beladen den Weg zum Hotel zurück. Nach einer kurzen Pause ist schon Zeit für’s Abendessen, und wir landen bereits zum dritten Mal im Pedacito-Burger, wo es heute relativ leer ist.

Und endlich steht fest, dass wir am Freitag (spätestens mittags) wieder aufbrechen können. Dann werden wir, genau wie in Panamá-Stadt, 15 Nächte hier in Medellín an einem Ort verbracht haben. Das ist in Summe ein ganzer Monat. Dafür haben wir diese zwei Städte wirklich ausgiebig und gut kennengelernt!

Während unser Zeit in Medellín – wir wissen nicht mehr genau an welchen Tagen – haben wir uns auf Amazon Prime Video noch die ersten Folgen von „Viktor bringt´s“ mit Moritz Bleibtreu in einer der Hauptrollen angeschaut, einfach weil uns der Name angespochen hat 😉 und es in Berlin gedreht wurde. Na ja, etwas seicht und die Dialoge sind manchmal ein wenig gestelzt, aber an einigen Stellen auch wieder ganz lustig.

Donnerstag 29.8.24 – Medellín (Ruhetag 14)

Unser letzter Tag in Medellín! Wir haben nur drei Dinge zu tun und gehen davon aus, dass diese den Tag zumindest fast ausfüllen. Als erstes gehen wir zur San Diego Mall, weil es dort den nächsten Apple-Laden geben soll. Wir sind so früh dran, dass dieser noch geschlossen ist, also gibt es vorher einen Kaffee bei Juan Valdez. Um kurz nach zehn beglücken wir die beiden Herren im Apple-Laden und kaufen einen Air-Tag. Diesmal werden wir das Paket nach Lima „verwanzen“, damit wir sehen können, wo es sich befindet. Die Männer sind sehr interessiert an unserer Reise und bekommen einen Sticker von uns.

In der Mall heben wir auch noch einmal zwei Millionen ab – wenn wir erstmal die Großstadt verlassen haben, werden wir vermutlich wieder wenig mit der Kreditkarte bezahlen können. Von dort laufen wir zur nächstgelegenen DHL-Express-Station, im Rucksack das Paket nach Peru. Nach den Erfahrungen in Panamá ist der Karton noch offen, und wir haben eine komplette Liste des Inhaltes vorbereitet. Die Station heisst „Autoservicio“ und wir sind uns nicht sicher, ob wir dort überhaupt Personen antreffen. Als wir ankommen, erklärt sich dieser Name: es ist eine „Drive-Through“-Station mit zwei Schaltern. Wir werden von zwei jungen Damen bedient, die zwischendurch immer wieder Fernando vom anderen Schalter zur Hilfe dazurufen. Denn wieder einmal kann bei der Identifikation des Versenders nur eine Ziffernfolge als Personalausweis-Nummer angegeben werden, wir haben aber Buchstaben und Ziffern gemischt. Erst nimmt die Mitarbeiterin einfach ihre eigene Nummer, aber Fernando hat später noch die Idee, die sechsstellige Zahl unten auf dem Personalausweis zu nehmen. Hier in Kolumbien wollen sie gar nicht wissen, was im Paket ist, wir können es einfach zukleben und den Inhalt schreiben sie nicht auf. Angeblich kann man alles verschicken (keine lebenden Tiere!). Es kommt sehr viel Papier aus dem Drucker, und Viktor muss dreimal nicht nur unterschreiben, sondern seinen Zeigefingerabdruck mit Tinte hinterlassen.

Dort fertig – es dauert so seine Zeit – fahren wir mit der Metro zurück. Viktor holt im Hotel den Karton mit den alten Mänteln und macht sich auf den Weg zu Camillo, der sie für uns aufbewahren wird. Sollten wir unterwegs wider Erwarten nochmal Mäntel benötigen, wären die alten Mäntel eine Reserve, die wenigstens schon in Südamerika ist. Camillo hat sich netterweise bereiterklärt, uns diese dann nachzusenden. Alle andere noch nicht benötigten Ersatzteile (Kettenblätter, Ritzel, Stoker-Kette, Freilauf) haben wir jetzt doch nach Lima geschickt. Jutta bleibt im Hotel – wir haben nur noch zwei Metro-Fahrten auf der Karte – und packt schon mal wieder die Taschen, so weit es geht, bis von Viktor die Nachricht kommt, dass er wieder auf dem Rückweg ist. Dieser führt über eine Straße, in der auf dem Gehweg alle noch verbleibenden Länder unserer Reise zu finden sind:

Wir wollen uns am Botero-Platz treffen. Jutta nimmt den alten Karton mit, der das Paket aus Deutschland war, und will ihn an der Müll-Straßenecke in der nähe des Hotels ablegen, damit sich eventuell einer der Obdachlosen ein „Bett“ daraus machen kann. Im Ausholen, um ihn oben auf den Müllstapel zu legen, wird er ihr schon aus der Hand genommen – nicht gerissen! – vielleicht sehen wir nachher noch jemanden darauf liegen. Am Botero-Platz muss Jutta eine ganze Weile warten, denn Viktor gerät in einen lokalen Regenguss und stellt sich eine Zeit lang unter.

Apropos Regenguss:

Auf der Metrofahrt von Viktor sieht er ein befremdliches Tattoo auf dem Arm eines Mitreisenden. Er kann ihn nicht schnell genug auf seine Deutschen Wurzeln ansprechen, sie fahren nur eine kurze Station gemeinsam. Aber das scheint entweder ein überzeugter Nazi zu sein oder er hat irgendwelche anderen alten Verbindungen nach Deutschland.

Gruselig!

Wir wollen am Botero-Platz warten, bis der Fahrradladen sein Okay gibt, dass wir das Tandem abholen können. Nachdem wir gemütlich ein „Naturales Erdbeer“ (diesmal mit Milch … man hat bei „Naturales“ immer die Wahl zwischen Wasser und Milch) getrunken haben, gibt es immernoch keine Neuigkeiten vom Fahrradladen und keine Reaktion auf mehrere WhatsApp-Nachrichten. Wir gehen also einfach in die Richtung von Ideal-Bikes und wollen so tun, als wären wir gerade zufällig in der Gegend. Tja, und das Rad ist natürlich fertig, sie haben uns nur nicht geschrieben (und auch nicht auf unsere Nachfrage reagiert). Wir hatten gestern für die Kettenmontage kein Kettenschloss mit abgegeben, das müssen wir jetzt natürlich noch bezahlen, aber die Montage der Kette und das Umdrehen des Rohloff-Ritzels kostet inklusive Kettenschloss umgerechnet keine 15 Euro.

Wir radeln zum Hotel – fast komplett über Radwege, die allerdings voller Verkaufsstände, Fußgänger und teilweise auch Taxis stehen, also eher im Slalom. In der Tiefgarage schrauben wir noch ein bisschen am Lenker und an der Teleskopierung für den Stoker, bringen die Getränkehalter und die Hase-Taschen schon einmal an und probieren aus, wie wir unser neues Schild am besten anbringen können. Es hängt jetzt mit zweimal zwei Kabelbindern am Griff unseres Rackpacks und sollte so zusätzlich zur Deutschlandflagge sichtbar sein. Zum „UNA BICI MAS“ (Ein Fahrrad mehr) haben wir mit Edding noch ergänzt „Y MENOS :-)“ (und weniger), nicht „O MENOS“ (oder weniger), weil wir ja statt Tandem auch mit zwei Rädern unterwegs sein könnten. Das „UNA BICI MAS“-Schild haben wir hier in Medellín an sehr vielen Fahrrädern gesehen, besonders bei denen, die bei der Sicleada mitgefahren sind. Das ist also wohl so ein „Fahrrad-Aktivisten“-Ding.

Nach etwas Pause gehen wir zum letzten Abendessen ins Bohemio, dass (zur Feier des Tages 🙂 ) mit Livemusik aufwartet. Wir bestellen extra erst Guacamole als Vorspeise, um die Wartezeit bis zum Beginn nicht schon mit den leckeren Bowls, die wir hinterher bestellen, zu verbringen. Die aus Schlagzeug, E-Kontrabass, Gitarre und Gesang bestehende Gruppe spielt vor allem Französische Songs. Wie lange hatten wir eigentlich keine Livemusik mehr – also Livemusik, der wir freiwillig zuhören ;-). Denn auf den Straßen hatten wir ja teilweise schon auch live singende oder anders musikmachende Menschen, die oft für uns nur laut und nervig klangen.

Da wir morgen nur eine kurze Strecke aus der Stadt herausfahren wollen, entscheiden wir uns für eine späte morgendliche Abfahrt, in aller Ruhe nach dem Frühstück.

Freitag 30.8.24 – (082) – Medellín – Caldas

Gesamt: 5.028,90 km

Endlich rollen wir wieder! 🙂
Sicherheitshalber haben wir uns für heute nur die Ausfahrt aus Medellín bis nach Caldas vorgenommen. Das sind auch schon knapp 400 Höhenmeter, aber der erste härtere Tag nach unserer langen Pause in Medellín wird uns erst morgen nach Santa Bárbara führen (800 Höhenmeter) … vielleicht auch noch weiter, wenn es nach unserer Heizerin (Stokerin) geht.

Heute frühstücken wir aber noch ein letztes Mal im Hotel und verabschieden uns von den Mitarbeiter*innen der Küche und der Rezeption. Die kannten uns jetzt schon ganz gut und wussten genau, was wir so zum Frühstück essen und trinken. Auch die „Sobresabana“, das Extra-Laken zum Zudecken war (fast) immer vorhanden. Die vergangene Nacht war allerdings nochmal richtig laut. Da alle Zimmer sämtlicher Stockwerke ihre Fenster zum Innenhof haben, durfen wir heute Nacht wieder bis 4 Uhr morgens dem ständigen Klopfen an der gegenüberliegenden Zimmertüre, lauter Musik aus allen möglichen Richtungen und den eindeutigen Geräuschen mehrerer Liebespaare lauschen, und das obwohl wir alle unsere Fenster geschlossen hatten.

Morgens hat Jutta eine Nachricht, dass in der heimischen Zeitung ein Bericht über uns steht. Helge Treichel hat ohne unser Wissen die ersten fünf Monate zusammengefasst:

Nicht so richtig ausgeschlafen geht es also gegen 9:15 Uhr los auf die Straßen Medellíns. Wir haben unsere Strecke vorab mit Camillo besprochen und sind größtenteils auf Radwegen stadtauswärts unterwegs. Die sind allerdings immer wieder zugeparkt oder mit Verkaufsständen zugestellt. Schon ohne diese Hindernisse sind die Radwege für unser vollgepacktes Tandem eher schmal. Hier einige Aufnahmen der Actioncam:

Aber im Vergleich zur Ausfahrt aus Cartagena ist es paradisisch. Selbst, wenn wir manches Mal rangieren, so sind wir trotz allem meistens getrennt von den motorisierten Fahrzeugen, und ab dort, wo die Radwege aufhören, ist der Verkehr weniger, und wir werden mit ausreichend Abstand überholt.

In La Estrella (der Endstation der Metro) passieren wir das Restaurant „El ciclista“ und beschliessen spontan, dort zu halten. Alles hängt voller Dinge zum Radfahren, und der Besitzer betüdelt uns richtig. In der Zeit, die wir dort sitzen, werden sehr viele in Tüten verpackte Essen in verschiedenen Autos davongefahren – wahrscheinlich leben sie davon. Andere Radfahrer fahren zwar vorbei, aber halten tut keiner.

Kurz nach der Pause werden wir langsam überholt und fotografiert, dann hält der Autofahrer und winkt uns anzuhalten. Ein 70-jähriger Mann ist ganz begeistert von uns, dreht ein Video mit Erklärungen, speichert Viktors Handynummer und will in Kontakt bleiben. Eventuell können wir ihn zu Weihnachten in Santiago de Chile treffen.

Die letzen Kilometer gehen zwar auch noch bergauf, sind aber relativ schnell geschafft, so dass wir um 12:15 Uhr am Hotel Caldas Plaza ankommen. Im Keller ist ein Saal für Veranstaltungen, in den wir das Tandem stellen dürfen. Obwohl es noch nicht 15 Uhr ist dürfen wir schon einchecken. Natürlich geht das Zimmer zur Hauptstrasse, der Strassenlärm klingt, als wären wir draussen. Tja, die ruhigeren Zimmer sind größer, und wir haben das einfache, kleine genommen (Kostenpunkt umgerechnet 18€, zwar ohne AC aber mit Warmwasser).

Nach dem Duschen suchen wir diverse „Espresso-Bars“ auf, die Google auflistet. Keine davon gibt es mehr. Aber als wir in einem Café/Restaurant nach einer Espresso-Maschine fragen, bekommen wir eine positive Antwort. Das „Dolce“ hat auch eine richtig vielseitige Essenskarte mit sehr vielen vegetarischen Gerichten, und wir legen eigentlich jetzt schon fest, dort auch abendzuessen.

Im Hotelzimmer bei Ventilatoren-Wind planen wir ein wenig weiter und stellen wieder einmal fest, dass es mit den Unterkünften etwas schwierig werden dürfte. Eventuell werden wir in den kommenden Tagen doch das ein oder andere Mal bei den lokalen Feuerwehren fragen müssen – die sollen einen immer zelten lassen (teilweise auch drinnen).

Um 18 Uhr gehen wir wieder los zum „Dolce“ – die Strassen und Bürgersteige sind um diese Zeit sehr voll, und die Temperatur ist mit 20°C relativ niedrig. Man kann schon eine Jacke gebrauchen! Die beiden bestellten Essen sind super, und das dunkle Cafébier von Viktor ebenfalls.

Morgen wollen wir wirklich wieder um sechs in der Früh aufbrechen, um die ersten 15 Kilometer (komplette Steigung) bei angenehmen Temperaturen fahren zu können. Hoffentlich lässt uns die Straße heute Nacht besser schlafen!

Samstag 31.8.24 – (083) – Caldas – La Pintada

Gesamt: 5.087,22 km

In der Nacht ist es auf der Straße nie richtig lange ruhig. Die Menschen hupen und rufen selbst mitten in der Nacht, und sehr früh, so gegen 3 Uhr, beginnt ein Einweiser der Busstation gegenüber (oder ist es der zentrale Busbahnhof von Caldas?) immer wieder die selben Satzfetzen oder Aufforderungen zu schreien. Dazu piepen die Busse und Lastwagen beim Rückwärtsfahren nervtötend. Die Hotelfenster sind so dünn und schlecht schließend, dass wir das Gefühl haben, zwischen den Bussen zu schlafen.

Um kurz vor sechs bitten wir den Nachtportier, uns die Garage bzw. den Eventsaal aufzuschließen, um das Tandem herauszuholen. Die Tienda gegenüber hat zwar seit vier Uhr geöffnet, aber leider nur 500 ml – Wasserflaschen, da nehmen wir erst einmal jeder eine, denn ohne H2O wollen wir den Daueranstieg am Anfang der Etappe auch nicht beginnen.

Heute geht es bis km 15 quasi nur aufwärts. Wir halten für einen Café con leche und ein Croissant zum Frühstück irgendwo im ersten Drittel. Sehr beeindruckend ist die Menge an Radfahrenden auf Renn- oder Mountainrädern, die uns in den ca. zweieinhalb Stunden, die wir benötigen, überholt. Immer wieder werden Daumen hochgestreckt, es kommen aufmunternde Rufe und Grüße, einige Male auch ein simples „Respeto“ (Respekt). Das ist tatsächlich ganz schön motivierend, aber die letzten 500 Meter schaffen wir dann doch wieder nicht auf dem Tandem. Der Akku des Captains ist leer, wir steigen ab und schieben das letzte Stück. Damit erreichen wir heute den vorläufig höchsten Punkt unserer bisherigen Tour und stellen mit 1.271 Metern auch einen Tagesrekord der bewältigten Höhenmeter auf.

Als wir oben am Pass auf 2.547m über N.N. ankommen, sind dort mehrere Einkehrmöglichkeiten, und an allen sitzen Menschen mit ihren Rädern. Natürlich werden wir Langsamen mit dem auffälligen Tandem von fast allen Überholenden angesprochen oder auch gefilmt, und einer bietet uns oben an, uns das Video zu schicken:

Ein verirrter Ziegenbock läuft auf der Straße und zwischen den Rädern und Menschen hin und her und erregt Aufmerksamkeit. Irgendwann ist er weg, und als wir die Abfahrt schon etwas hinunter sind, steht er wieder angebunden vor einem Haus. Er war wohl ausgebückst.

Nach der ausgiebigen Pause oben geht es insgesamt über 2000 m bergab. Unser vom Captain präferiertes Ziel Santa Barbara erreichen wir um halb elf. Das ist so früh, dass sofort klar ist, dass wir weiterfahren – es geht ja eh fast nur bergab. Wir fahren hinab bis ins „Valle de Cauca“, also in das Tal des Rio Cauca, dem wir in den nächsten Tagen flussaufwärts folgen werden. Die gesammelten Abfahrten – ohne die kurzen Steigungen, die es natürlich auch noch gibt – werden mit der ActionCam gefilmt und ergeben ein 50 minütiges Video, das man sich vermutlich besser in mehrfacher Geschwindigkeit anschaut … oder es vielleicht auch einfach lässt 😉

Vor La Pintada steht ein großes Subway-Werbeschild, das bei Viktor die Magensäfte fließen lässt – es ist auch schon nach zwölf. Wir haben aber noch keine Unterkunft, und wollen uns erst darum kümmern. Jutta hat gestern ein Hotel prophylaktisch als Zielpunkt eingegeben. Wir fahren im Ort schon an mehreren Hotels vorbei, behalten sie als Backup im Kopf, und folgen der Navigation. Zwischendurch denken wir, dass wieder einmal ein Pin falsch gesetzt sein muss, die Straße scheint ins Nichts zu führen. Aber an der exakt richtigen Stelle ist die Einfahrt zum Hotel Villa Camila, einem Finca-Hotel mit mehreren kleineren Gebäuden, weit ab von der Straße. Und sie haben noch Platz, mit Auswahl zwischen einem Luxus-Zimmer oder einem Standard. Wir nehmen den Standard und erfahren dann, dass das zur Verfügung stehende Zimmer leider gerade kein Heißwasser hat. Viktor versucht noch, einen Rabatt herauszuschlagen – vergeblich. Dafür soll das W-LAN heute gut sein (das gestern war im Prinzip nur auf dem Flur erreichbar und sehr langsam). Wir können es aber erst um 15 Uhr beziehen, also gehen wir tatsächlich erst noch einen Sandwich bei Subway essen.

Nach der Rückkehr können wir doch schon vor 15 Uhr unser Zimmer beziehen und Viktor nutzt noch den Pool. An Juttas Radfahrschuhen ist wieder eine Schraube der Cleats verloren gegangen. So langsam wird es knapp mit den Ersatzschrauben. Bis zum Abendessen planen wir die nächsten drei Etappen etwas detaillierter, da es unterkunftsmäßig an der Strecke ein wenig dürftig aussieht. Wir nutzen außerdem das bessere W-LAN, um das gestrige ActionCam-Video hochzuladen und unsere Fotos mit dem heimischen Server zu synchronsieren.

Zum Abendessen geht es ins Hotelrestaurant, Viktor wieder fleischlastig mit einer „Bandeja Paisa“, Juttas vegetarisch erwartete Quesadilla ist dann doch mit Schweinfleisch gefüllt und sie muss beim Essen an Renate denken (Nati weiß schon warum 😉 ).

Im Gang des Hotels

Sonntag 1.9.24 – (084) – La Pintada – Neira

Gesamt: 5.158,20 km

Viktor wacht gegen 23:00 Uhr auf, weil ihn irgendein Tier am Rücken berührt hat. Es fühlt sich an wie ein Nachtfalter, der gegen den Rücken geflattert ist. Er versucht ihn wegzuschlagen, erwischt aber nichts. Als er sich auf den Rücken dreht gerät das Tier im Bett offenbar unter seinen Rücken und sticht zu. Es fühlt sich an wie der Stich einer Biene. Also wird das Zimmerlicht angemacht und auf dem Bettlaken finden wir einen quicklebendigen kleinen Skorpion, den wir unter einem Getränkebecher einfangen.

Da wir nicht wissen, ob es hier in der Gegend gefährliche Skorpione gibt, fragt Viktor an der Rezeption nach. Nach einem ersten „In dieser Gegend gibt es keine Skorpione, die gibt es nur weiter oben in den Bergen“, wird der Hoteldirketor telefonisch kontaktiert. Viktor geht zurück ins Zimmer und der Skorpion kommt in eine kleine Kartenspiel-Dose, die er an der Rezeption erhalten hat. Da der leichte Schmerz schon wieder nachlässt und sich auch keine anderen Symptome einstellen (keine Sprachschwierigkeiten, Lähmungen, Atemprobleme, Schwindel oder sowas), will er sich gerade wieder ins Bett legen, als es an der Tür klopft. Der Rezeptionist steht vor der Tür und teilt uns mit, dass das Auto jetzt da wäre und wir ins Krankenhaus fahren könnten. „Wie jetzt, Krankenhaus?“ … „Na ja, sicher ist sicher“. Der Hoteldirektor, Andres, Mitte 20, lebte mit den Eltern lange in Spanien (Valencia) und hat dort Marketing studiert, bevor er die Leitung des Familienhotels übernahm, fährt Viktor höchstpersönlich zum Krankenhaus, das keine fünf Autominuten entfernt ist. Jutta bleibt im Hotelzimmer und recherchiert kurz, welches Krankenhaus das wohl sein könnte. Sie findet eine beunruhigende Bewertung, in der es mehr oder weniger heißt, man solle zum Sterben lieber zuhause bleiben, als dort hinzugehen.

Nach einer halben Stunde Wartezeit, der Schmerz ist kaum noch spürbar, entscheiden Hoteldirektor und Viktor gegen Mitternacht gemeinsam, dass es auch ohne ärztliche Bestätigung zurück zum Hotel gehen kann.

Die weitere Nacht ist bis auf ein Gewitter so ruhig wie seit Wochen nicht mehr. Als um fünf der Wecker klingelt, wären wir gerne noch liegen geblieben, aber wir wollen weiter und packen alles. An der Rezeption sagt man uns, es würde eigentlich fast nie regnen, aber der Regenradar lässt nichts Gutes erahnen. Eventuell können wir bei zügiger Fahrt vor das große Regengebiet kommen und dort trocken weiterfahren. Zunächst einmal dürfen wir im Hotelrestaurant fragen, ob sie uns schon einen Kaffee machen würden. Sie sind so nett, und wir können mit Kaffee und Keks im Magen losfahren, ohne sofort nach einer Einkehrmöglichkeit für ein Frühstück zu suchen.

Es geht auf der 25 weiter Richtung Süden. Als hätten viele LKW-Fahrer in La Pintada genächtigt, überholen uns zu Beginn sehr viele LKW – nach relativ kurzer Zeit legt sich das aber, und der Verkehr ist sonntäglich ruhig. Heute ist schon der zweite Tag, an dem uns in einigen Abfahrten kühl wird … ein Gefühl, das wir schon fast nicht mehr kannten.

Ein Motorradfahrer (Uriel) überholt uns, wendet zweimal und fährt dann etliche Kilometer langsam neben uns her, obwohl es viel bergauf geht und wir sehr langsam sind. Wir unterhalten uns über das reisen mit dem Rad, über einige Reisen, die er schon gemacht hat (unter anderem Cusco mit dem Rad, Bolivien mit dem Motorrad) und die erste längere Steigung des tages vergeht wie im Flug. Zwischenzeitlich bietet er an, uns zu schieben – wir lehnen dankend ab. Am Ende bietet er uns an, uns zu filmen und uns das Video zu schicken, denn er hat von seinen Reisen sehr wenige Erinnerungen im Video- oder Fotoformat und bedauert das sehr. Eine tolle Begegnung und es bleibt nicht die letzte an diesem bemerkenswerten Tag.

Es geht lange am Rio Cauca entlang, und als links ein Mirador kommt, machen wir eine Pause. Der Blick ist sensationell. Der Regen hat aufgehört. Der Tag entwickelt sich zu einem dieser fast perfekten Tage.

Der Aussichtspunkt ist der höchste Punkt auf der ersten Streckenhäfte, anschließend geht es erst einmal bergab und dann immer abwechelnd hoch und runter durch grüne Berge auf beiden Seiten. Insgesamt fahren wir aber gegen die Flussrichtung des Rio Cauca und gewinnen langsam an Höhe, ohne dass wirklich steile Passagen dabei sind. Trotz des ständigen Auf und Ab ist die Strecke weniger zermürbend als so manche Strecke, die wir in Costa Rica auf der Halbinsel Nicoya gefahren sind. Am Straßenrand stehen immer wieder Verkehrschilder mit neuen Tieren darauf.

Tatsächlich lebendig gesehen haben wir heute aber leider kein einziges dieser Lebewesen. Die Geckos und Skorpione im Hotel müssen reichen. Obwohl … wir sehen häufiger weiße Vögel über uns und über dem Fluss das Tal entlang fliegen. Wir können sie nicht eindeutig zuordnen und schwanken zwischen Reihern und irgendeiner weißen Papageien-Art (denn hier soll es Aras geben).

Bei Kilometer 40 lädt ein „Multiservice Parador“ zur nächsten Pause ein. Das Ganze sieht sehr neu aus, alles strahlend weiß und orange, aber es gibt diesen Ort schon seit 1999. Es gibt nicht nur ein Restaurant mit einer zentralen Outdoor-Küche und Theke darum herum, sondern auch Hotelzimmer im Gebäudeteil darunter. In irgend so etwas Ähnlichem werden wir heute auch übernachten. Auch hier wieder eine schöne Aussicht:

Ganz kurz nach dem Weiterfahren kommt uns ein Bikepacker entgegen. Damit haben wir schon ein bisschen gerechnet, weil sich in der Südamerika-WhatsApp-Gruppe jemand, der aus dem Süden kommt, nach einem Gastgeber in La Pintada erkundigt hat. Es ist Felipe (inzwischen der Dritte „Felipe“ auf dieser Tour), kommt aus Argentinien, hat seine Gitarre dabei, will bis Mexiko fahren und arbeitet immer mal zwischendurch, um Geld für die Weiterfahrt zu verdienen. Wir tauschen Kontakte und machen Bilder.

Vielleicht zehn Minuten später kommt uns ein weiterer Bikepacker entgegen: Konrad aus Polen, der mit seinem (Deutschen) Fahrrad die Welt umrundet, schon Asien, Polynesien, Australien, Neuseeland und Südamerika (insgesamt über 20 Länder) geschafft hat. Er gibt uns Tipps zu Ecuador und Peru, und auch wir tauschen Kontakte und machen Bilder. Wir sagen ihm noch, dass Felipe nicht sehr weit vor ihm in derselben Richtung unterwegs ist (das hatten wir sonst noch nicht, so kurz hintereinander).

Nicht weit vor Irra (wo wir eigentlich übernachten wollten, es aber nichts gibt, weshalb wir den Truckstop kurz hinter Irra „ausgesucht“ haben) ist noch einmal ein sehr großer Parador mit mehreren Restaurants und Cafés, nicht schön, aber voll von Busreisenden und sehr laut :-). Da wir inzwischen herausgefunden haben, dass unser Zimmer heute Abend nur sechs Quadratmeter haben wird, bleiben wir trotzdem mehrere Stunden hier. In der oberen Etage kann man sogar Eis kaufen, und wir haben noch mehrere ausgegebene Eis offen. Das ist die Gelegenheit! Als die Verkäuferin uns ignoriert und neben uns im Müll wühlt, und danach, ohne sich die Hände gewaschen zu haben, an die Eistruhen geht, vergeht uns der Appetit nach Kugeleis, und wir nehmen doch lieber Abgepacktes! Das haben wir uns heute redlich verdient – vielen Dank für’s Spenden, Tina und Stefan!

Danke Tina & Stefan

Als Viktors Handy leer ist und wir es an keiner Steckdose aufgeladen bekommen, es aber auch schon 14 Uhr ist, fahren wir dann doch in Richtung der Unterkunft. Wir kommen noch an einer Mautstation vorbei, an der wir fragen, ob wir morgen durch zwei Tunnel auf der Strecke fahren dürfen. Ein Herr dort sagt, wenn wir heute durch den Tunnel auf der zurückliegenden Strecke gefahren sind (ja, sind wir!), dann können wir das morgen auch. Etwas weiter ist eine Stelle mit Arbeitern in der gleichen Uniform, wo wir auch noch einmal fragen. Der Herr dort sagt, wir dürfen dort nicht durchfahren, sondern müssen einen anderen Weg, in jedem Fall mit sehr viel mehr Steigung, nehmen. Jetzt steht es 1 zu 1, und wir wissen noch nicht weiter. In der VIBICO-WhatsApp-Gruppe wird uns geraten, an einem Parador vor dem ersten Tunnel einfach die Lastwagenfahrer anzusprechen und sie zu bitten, uns durch den/die Tunnel zu transportieren. Mittlerweile ist es 20 Uhr und wir wissen nicht einmal genau, ob es sich um einen, zwei oder vielleicht sogar drei Tunnel handeln könnte.

Unser „Hotel“ liegt an einer Terpel-Tankstelle, oben drüber ist ein Restaurant und ein Minimarket, am Ende eine Rampe und ein paar Stufen hinunter kommt man zu Anmeldung. Die „Zellen“ sind wirklich nur sechs Quadratmeter groß, haben aber WIFI und AC. Ein Kommentar von anderen Radreisenden beschreibt es hier als „Gefängnis“, aber ganz so schlimm ist es nicht – die Toilette besteht zwar nur aus der Schüssel, ist aber hinter einer Wand. Alles, auch das Bett und die Handtücher, riecht nach Zigaretten. Bei den Handtüchern von einem „Grauschleier“ zu sprechen, wäre eine maßlose Untertreibung. Unser Zimmer ist ganz hinten im Gang, mit rosa Bettzeug. Wir nehmen nur das Nötigste mit ins Zimmer, auch wenn der Rest am Tandem einfach draußen stehen bleiben muss – es gibt keinen Ort zum Unterstellen. Aber die Tanktelle und der Parkplatz sind 24 Stunden geöffnet und bewacht, das Tandem steht direkt vor dem 24h-Minimarket und den Büros der Tankstellen-Mitarbeiter.

Woche 21 (19.8.24 – 25.8.24) – Medellín – Medellín

Montag 19.8.24 – Medellín (Ruhetag 4)

Zu sieben Uhr fahren wir mit dem unbepackten Tandem zur Stelle, an der die Straße von sieben bis 13 Uhr für Autos gesperrt ist. So früh sind noch nicht sehr viele Menschen unterwegs, es werden aber minütlich mehr, vor allem Läufer*innen, aber auch Radfahrer*innen und eine Skaterin. An allen Straßenkreuzungen stehen Ordner*innen mit Inder-Shirts, d.h. diese Straßensperrungen sind von der Regierung in Medellín initiiert. An „wichtigen“ Kreuzungen müssen wir teilweise trotzdem anhalten, wenn die Querstraße grün hat. Trotzdem ist es toll, die etwa sechs Kilometer lange Strecke auf der mehrspurigen Straße einfach sorglos fahren zu können und alle paar Meter freundlich von Inder-Mitarbeitenden gegrüßt zu werden. Der „Hinweg“ Richtung Süden geht mehr bergauf und dauert ein ganzes Stück länger als der „Rückweg“ Richtung Norden. Die Temperatur ist um diese Zeit richtig angenehm, in der Nacht ist es bis auf 16°C abgekühlt, das passiert hier gar nicht so häufig. Um acht sind wir zurück am Hotel, und nachdem Viktor schnell geduscht hat, frühstücken wir.

Anschließend machen wir uns auf den Weg zur Alpujarra-Metrostation (die dritte, die in der Nähe des Hotels liegt), dem Treffpunkt unserer heutigen Free-Walking-Tour. So eine Tour haben wir ja schon in Cartagena mitgemacht und für ein gutes Konzept befunden. Wir sind extra früh dran, weil wir planen, noch einen Kaffee trinken zu gehen. Beim Hotelfrühstück gibt es Kakao, der hier in der Region typisch zum Frühstück ist. Er ist allerdings eigenartig gewürzt, Viktor vermutet Muskatnuss. Aufgrund des heutigen Feiertags sind die Cafés in der Nähe der Metrostation leider alle geschlossen. Der Suchradius wird größer, und tatsächlich sehen wir ein geöffnetes Restaurant, das auch Kaffee anbietet. Kaum haben wir einen Fuß hineingesetzt, werden wir von Gilberto begrüßt (siehe Beitrag letzter Woche), der mit zwei Touristen an einem Tisch sitzt. Dummerweise hat Viktor ihm gestern per WhatsApp geschrieben, was wir heute machen 🙁 , und er hat sich ebenfalls für die Tour angemeldet. Er hat anscheinend sofort zwei andere Touristen geangelt, die auch schon so früh für eben diese Tour dort waren. Viktor überhört später, wie er ihnen ebenfalls anbietet, sie im Stadtteil Bello herumzuführen. Gilberto ist zwar ein ganz netter Kerl, aber seine „Geschäftstaktik“ ist dann doch etwas zu aufdringlich und intransparent.

Wir trinken also schnell einen Kaffee und gehen dann zu fünft zum Treffpunkt. Als bereits vor zehn Uhr alle 14 Teilnehmenden anwesend sind, geht unser Guide Milo (eigentlich Camillo) schon mit unserer angenehm kleinen Gruppe los. Er spricht ein sehr gut verständliches Englisch und ist einer der erfahrensten Guides bei Real City Tours.

Zunächst klärt er uns auf, dass alle auf ihre Wertsachen achtgeben sollen und selber verantwortlich sind. Wir setzen uns irgendwo in den Schatten, und nachdem er alle anwesenden Nationalitäten erfragt und sie unseren Namen zugeordnet hat (Wahnsinn, und das merkt er sich über die gesamte Tour) erklärt er zunächst sehr anschaulich die noch nicht sehr alte Geschichte Medellíns.

Bis zur Kolonisation durch die Spanier lebten nur wenige kleinere indigene Gruppen in den Bergen rund um das heutige Medellín. Mit Hilfe von Sklaven, die über Cartagena ins Land gebracht wurden, beuteten die Spanier die Goldvorkommen in den hiesigen Bergen aus. Die indigene Bevölkerung wurde gewaltsam und durch eingeschleppte Krankheiten dezimiert. Medellín blieb aber bis in die 1850-er Jahre eher klein und unbedeutend. Erst als die Industrialisierung begann, wurde eine Eisenbahnstrecke zum wichtigsten Fluss „Rio Magdalena“in Richtung Westen gebaut, und es kamen immer mehr Einwohner nach Medellín. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versiebenfachte sich die Bevölkerung. Es siedelten sich Industrien und Banken an und mit ihnen auch wohlhabendere Menschen. Andererseits wuchs auch die ganz arme Bevölkerung in den Bergen rund um Medellín, vorwiegend Binnenflüchtlinge aus den ländlichen Regionen Kolumbiens aufgrund der andauernden Bürgerkriege, später auch durch sehr viele Geflüchtete aus Venezuela, das früher ein Teil Kolumbiens war. Diese beiden „Schichten“ sind aufgrund der speziellen Geographie nie zu einer Stadt zusammengewachsen, es waren eher zwei Städte. Lange Zeit wurde vor allem Kaffee angebaut und gehandelt. Die ersten mafiösen Strukturen bildeten sich, als hohe Steuern auf Tabak und Alkohol erhoben wurden, und sich der Schmuggel dieser Produkte nach Kolumbien lohnte. Als in den USA und Europa die Nachfrage nach Kokain (Anfang der 80er bis Mitte der 90er Jahre) stieg, drehte sich die Schmuggelrichtung quasi um, und die Mafia begann, diese Nachfrage durch den Kokainexport aus Kolumbien über ihre existierenden Schmuggelnetzwerke zu stillen. So begann die wirklich schwierige Zeit Kolumbiens mit der Gewalt von Drogenkartellen, Guerillas und Bürgerkriegsparteien nebeneinander.

1992 wurde das von Pablo Escobar – den unser Guide Milo nur als „der, dessen Namen nicht genannt wird“ bezeichnet – geführte Kokain-Kartell zerschlagen. Nach seinem Tod kämpften verschiedenste Gruppen (FARC, ELN, CAP) besonders in der Comuna 13 um Macht und Kontrolle der Kokain-Handelswege (Zugang zur karibischen Küste). Im Jahr 2000 griffen rechte Paramilitärs (AUC) in den Kampf ein. Medellín wurde zur gefährlichsten Stadt der Welt nach Mordrate (357 Morde pro 100.000 Einwohnern). Die gestern erwähnte Operation Orion beendete diese Kämpfe in 2002 blutig.

2004 begann der Bürgermeister „Sergio Fajardo“ damit, neue städtebauliche Entwicklungsprojekte durchzuführen, um die abgehängten Stadtteile in den Bergen besser an Medellín anzubinden und in die Stadt zu integrieren. Insbesondere die Seilbahnen (ab 2007) mit Anschluss an die Metro und die Rolltreppen (2011) sind daher auch als „sozialer Städtebau“ zu verstehen. Medellin wurde 2013 auch aus diesem Grund zur innovativsten Stadt der Welt gekürt.

Ehemals gefährliche Plätze wurden erhellt, bepflanzt, in Sportstätten umgewandelt, viele Bibliotheken gebaut, ein kostenlos zu nutzendes Leihrad-Netz insbesondere in Metro-Nähe eingerichtet, und, und, und.

Trotzdem arbeiten immer noch 56% der Bevölkerung „informell“ (Schwarzarbeit sowie Mini-Selbständigkeit) und 60% liegen mit ihrem Einkommen unter 400 U.S.-Dollar monatlich.

Besonders die Corona-Pandemie und die politische Lage in Venezuela belasten Kolumbien und haben an einigen Stellen auch wieder zu Rückschritten geführt.

Neben dem Besuch von weiteren Plätzen und Straßen erfahren wir auch noch, dass Kolumbien das „Land der 1000 Rhythmen“ ist, dass, obwohl es sehr katholisch ist, es trotzdem auch sehr „open-minded“ ist (z.B. bei den Themen Abtreibung, Same-Sex-Marriage und LGBTQ), dass die Bevölkerung schlechte Dinge gut verdrängen und sich an positiven Kleinigkeiten sehr erfreuen kann (er erwähnt explizit das 1:1 von Kolumbien gegen Deutschland im WM-Vorrundenspiel 1990 in Italien), dass Botero der Stadt 23 Skulpturen geschenkt hat, unter der Bedingung, sie öffentlich zugänglich zu machen und vieles mehr. Nachdem wir fast alle noch das typische Getränk aus Zuckerrohr-Saft, Zitronensaft und Eis probiert haben, beendet Milo die Tour an einem Platz, an dem bei einem Konzert in den 90ern eine Botero-Figur durch einen Sprengsatz zerstört wurde. Botero selbst hat anschließend gefordert, die Figur solle als Mahnmal dort stehen bleiben und eine gleiche neue zum Danebenstellen gespendet.

Mit viel neuem Wissen verabschieden wir uns von den Deutschen, Schweizerischen, Griechischen, Norwegischen, Australischen (evtl. noch weitere) Reisenden (und von Gilbert) und verbringen die nächste Zeit mit der Blog-Aufarbeitung, ersten Planungen der nächsten Etappen und dem Schreiben positiver Google-Bewertungen für unseren Guide Milo. Außerdem versucht Jutta mit auf dem Rückweg gekauften Chlortabletten, die den schönen Namen „Razz-Fazz“ tragen, ihre stinkenden Shimano-Sandalen (das einzige Paar Schuhe seit Santa Barbara) zu desinfizieren, mal schauen, ob es wirkt.

Zu einem frühen Abendessen (damit noch im Hellen) radeln wir zu einem Italiener in der „San Diego-Mall“, wo wir abgefangen werden, als wir das Tandem hineinschieben wollen, und es draußen stehen lassen müssen. Ein „Aufpasser“ hat für ein Trinkgeld ein Auge darauf.

Dienstag 20.8.24 – Medellín (Ruhetag 5)

Wir gucken gleich morgens im den Tracker für das erwartete Paket: nichts Neues! Das bedeutet, wir können zumindest nicht gleich vormittags zu dem Warmshowers-Menschen fahren, an dessen Adresse es geschickt wurde, um es abzuholen. Was machen wir statt dessen? Die Motivation ist nicht sehr groß. Viktor probiert eine ganze Weile, jemanden ans Telefon zu bekommen. Manchmal scheint die Nummer nicht vergeben zu sein, manchmal gerät man in eine Endlos-Warteschleife mit Werbung, mehrmals hört man Musik mit einer Kinderstimme, die irgendwelche Zahlen aufsagt, aber niemals bekommt man jemanden ans andere Ende.

Wir beschließen, die Zeit zu nutzen und das Memory-Museum zu besuchen. Als wir schon unterwegs sind, sehen wir, dass dieses dienstags geschlossen ist. Dann fällt uns alternativ der Kulturpalast ein und wir gehen in die Richtung. Auf dem Weg trinken wir noch schnell einen Kaffee, da es zum Frühstück nur Saft gab.

Im Kulturpalast müssen wir vor dem kostenlosen Eintritt unsere Ausweise vorzeigen, und es wird an der Security mit einer Logitech-Webcam ein Foto von uns gemacht (wie an der Grenze bei der Einreise). In der unteren Etage befinden sich Ausstellungen verschiedener Künstler, in den Obergeschossen sind eine Bibliothek, Büros, Seminarräume und noch weitere Ausstellungsräume. Ganz oben gibt es zwei Aussichtsterrassen, eine im zuerst fertiggestellten Teil, der an eine Kirche erinnert, die zweite im später fertiggebauten, schlichteren Teil.

an dieser Ecke wandelt sich der Baustil

Wir kommen am Ende ohne Abmeldung bei der Security wieder heraus und probieren anschließend, ins Museum von Antioquia zu gehen. Da wir dort aber Eintritt zahlen müssten, lassen wir das doch und schlendern weiter. Viktor probiert zwischendurch weiter, bei der Post anzurufen – weiterhin erfolglos. Wir gehen in das „Centro Commercial Palacio Nacional“, der Shopping Mall im alten Palastgemäuer mit Säulen-Wandelhalle, um es uns mal genauer von innen anzuschauen. Beim ersten Besuch hatten wir nur die zahlreichen Schuhgeschäfte (im Erdgeschoss) gesehen, heute sehen wir auch die Kleidungsetage (erstes Obergeschoss) – alle Schuhe und Kleidungsstücke hier sind gefakte Markensachen, hat unser Guide Milo gestern erzählt. In den oberen Etagen ist eine riesige Anzahl Bilder in allen kleineren und größeren Räumen ausgestellt, die teilweise mit Presiangaben ausgeschildert sind. Wir fahren nicht mehr ganz nach oben, weil man sich so viele Bilder eh nicht richtig anschauen kann.

Bevor wir ins Hotel zurückgehen, trinken wir noch ein(e) „Pony“. Dieses Getränk gab es auch schon in Panama, und wir müssen es doch wenigstens mal probieren. Es ist eine Art Malzbier, noch etwas süßer und mit Vanille aromatisiert. Wie wir beobachtet haben, wird es hier von relativ vielen Menschen zum Frühstück getrunken.

Im Hotel geht es dann weiter mit den Anrufversuchen bei der Post. So ein bisschen wird man dann ja doch bekloppt, wenn man ständig nur Ansagen wie diese hört:

Wegen Problemen beim Operator Ihrer Zielnummer kann der Anruf nicht durchgestellt werden.
Promo: Pakete unter 2 kg und 200 USD Gesamtwert sind steuerfrei.

Irgendwann bekommt Viktor dann unter der Nummer der Post-Zentrale in Bogota doch eine Frau ans Telefon. Sie erklärt, dass für das Paket noch Zoll zu zahlen ist. In den nächsten Tagen würde an der Zieladresse eine Karte eingeworfen, auf der dann steht, wie der Betrag zu begleichen ist. Viktor fragt, ob das nicht auch per E-Mail ginge, was die Frau bejaht. Nach vielen notwendigen Angaben schickt sie schließlich eine Mail, in der ganz unten steht, dass wir über 400.000 Pesos (über 100 Euro) zahlen müssen, bevor wir das Paket ausgeliefert bekommen. Wenn wir nicht angerufen hätten, hätten wir mehrere Tage verloren (bzw. Tage in Medellín gewonnen 😉 ). Warum hatte der Tracker nur schon den 16.8. als Auslieferungsdatum angegeben?

Das Bezahlen gestaltet sich daraufhin noch schwierig: man kann nur eine Kolumbianische Kreditkarte angeben, und die haben wir nicht. Wieder hilft uns Camillo, der Warmshowers-Host. Er stellt seine Kreditkarte zur Verfügung, und wir zahlen ihm dann bei Abholung den Betrag in bar.

Angeblich wird 24 bis 48 Stunden nach Eingang des Geldes der Tracker aktualisiert, erst dann können wir abschätzen, wie lange wir noch hier in Medellín bleiben müssen. Alles nicht so toll, nur ein paar Wochen, nachdem wir schon in Panamá festgesessen haben.

Unser gestriger Guide Milo veranstaltet heute Abend in einer Bar einen „Workshop“ zu Kolumbianischer Musik und hat in einem Instagram-Post die Frage nach dem hinterlegten Rhythmus plaziert. Wir shazamen das Stück und schreiben eine Antwort (Paso). Viktor wird unsicher und schreibt noch drei weitere Möglichkeiten. Jutta bekommt eine Nachricht, dass sie ein Bier gewonnen hat, Viktor aufgrund der mehrfachen Versuche nicht. Eigentlich haben wir keine große Lust, hinzugehen, Beginn ist um 20 Uhr, und die Bar ist gut vier Kilometer entfernt.

Wir laufen dann doch schon sehr zeitig los, wollen unterwegs etwas essen und quasi dann unterwegs entscheiden. Der Weg ist fast nur geradeaus, der Feierabendverkehr voll im Gange. An den Kreuzungen stehen zusätzlich zu den Ampeln überall Verkehrspolizisten. Ampeln alleine scheinen nicht auszureichen. Wir haben uns vorher ein italienisches Restaurant in einer Nebenstraße, ca. einen Kilometer vor der Bar, ausgesucht. Dort angekommen, ist es geschlossen 🙁 . Vielleicht ist das unser Glück! Etwas weiter in derselben Straße ist der Italiener Pomodoro (auch wenn wir gestern schon beim Italiener waren), und dort fühlen wir uns super wohl. Wir sitzen hinten im Garten, dass Essen ist toll, Viktor bekommt endlich seine Gnocchi und Jutta vegetarische Lasagne mit Spinat (beim Essen fällt ihr auf, dass sie so etwas schon sehr lange nicht mehr hatte). Glücklich sattgeworden gehen wir dann auch noch weiter zur „Dopamina-Bar“, wo der Workshop stattfindet.

In einer kleinen Gruppe lernen wir bei Milo in einer guten Stunde fünf Rhythmen aus verschiedenen Teilen Kolumbiens kennen, müssen sie teilweise auch tanzen und bekommen Trink- und Essproben dazu. Macht Spaß und lässt uns eine Weile unsere Frust-Gedanken an das Paket vergessen.

Milo erklärt uns anschließend noch, wie das hier in Kolumbien mit den unterschiedlichen Preisen für z.B. Strom funktioniert, und welches Viertel welche der sechs Schichten bedeutet. Grundsätzlich ist es seit 1994 in Kolumbien so, dass Wohnviertel in eine der sechs „Strata“ eingeordnet werden. Unser Hotel liegt z.B. in „La Candelaria“ in Strata 4, der Stadtteil „El Poblado“ in 6, die Dopamina-Bar in „Los Laureles“ in 5. Je höher diese Strata, desto höher sind nicht nur die Mieten (ähnlich dem Mietspiegel in Deutschland), sondern auch alle anderen Preise für Strom, Wasser, Gas, Müllabfuhr, Stadtreinigung etc. Diese wohnortabhängige Umverteilungskomponente existiert zusätzlich zum gestuften Einkommenssteuersatz. Verdient man gut und wohnt in einem der unteren Strata, zahlt man auch nur die geringeren Gebühren. Das sorgt für ein wenig mehr Durchmischung der sozialen Milieus. Milo bestätigt uns, dass das System voll akzeptiert ist, nur wenige es kritisieren und keiner der derzeit relevanten politischen Akteure es derzeit abschaffen will. Wir sind sehr erstaunt.

Mit einem Taxi fahren wir schließlich zurück zum Hotel. Der Zimmerservice hat uns heute das Laken (Sobre-Sabana) zum Zudecken weggenommen, Viktor fragt an der Rezeption danach, und als wir schlafen gehen wollen, entpuppt sich das Laken als riesiges Spannbettlaken. Zum Zudecken tatsächlich prima, denn wir ziehen es uns in der Nacht nicht ständg gegenseitig weg!

Mittwoch 21.8.24 – Medellín (Ruhetag 6)

Wir gehen gleich morgens los in Richtung der „Casa de la Memoria“, dem Memory-Museum, in dem die gewaltsame Geschichte der Stadt Medellín verarbeitet wird. In dieser Ecke der Stadt sind wir noch nicht gewesen, obwohl es gar nicht so weit weg liegt. Es gilt auch wieder kostenloser Eintritt, wir müssen nur online einige Angaben über uns machen. Die App für den Audioguide gibt es nur für iOS (Jutta hat extra ihr Android mitgenommen, nun denn), aber die Ausstellung ist so interaktiv, dass es auch gut ohne geht. Zur gleichen Zeit ist eine größere Schulklasse dort, so dass die verschiedenen Bildschirme, Schaukästen etc. zumindest zu Beginn nur mit Wartezeit anzuschauen sind. Von den Informationen ist leider nur ein geringer Teil auch ins Englische übersetzt, mit den Vokabeln auf Spanisch hat Jutta reichlich Probleme. Das Museum war in erster Linie für Einheimische errichtet worden, aber jetzt sind wohl 75% der Besucher Touristen aus dem Ausland, erfahren wir später. Das Museum erklärt unter verschiedenen Gesichtspunkten eindrucksvoll die jüngere Geschichte Medellins. Jutta bleibt z.B. eine Frau in Erinnerung, die im Alter von elf missbraucht worden ist, viele Jahre später per Zufall einem Ihrer Peiniger begegnet ist und ihm dann erwidert hat, die Vergangenheit wäre vergangen, und jetzt müsse man nach vorne schauen.

Nach dem Museum laufen wir zum Ideal-Fahrradladen, weil dieser heute unser Tandem erwartet, und niemand auf die WhatsApp reagiert hat, die ihnen mitteilen sollte, dass wir noch auf die Ersatzteile warten. Wir geben also persönlich Bescheid und bekommen eine andere WhatsApp-Nummer mitgeteilt, der wir Nachrichten schreiben können.

Von dort gehen wir noch einmal ins Café am Antioquia-Museum, nehmen heute kalte Kaffees und bekommen sie in Bechergläsern serviert. Eigenartiges Gefühl, aus solchen zu trinken, wenn man sie sonst beruflich für „giftigere“ Dinge nutzt. Den Nachmittag vertrödeln wir im Hotel (keine Nachricht von der Post).

Abends um 20 Uhr beginnt eine von „Siclas Medellín“ organisierte „Sicleada“. Das wissen wir von dem Warmshowers Host, und da wir morgen ja eh noch nicht weiterfahren können, wie ursprünglich geplant, wollen wir mitfahren. Es ist, ähnlich der Critical Mass in Berlin, eine Tour vieler Radfahrender auf den Straßen der Stadt. Die Strecke wird hier aber vorher geplant und veröffentlicht, in Berlin verläuft die Route spontan. Die Polizei ist hier in keinster Weise involviert. An gelben Westen erkennbare Freiwillige („Voluntarios“, unser Warmshowers-Kontakt Camillo ist auch einer von ihnen) „korken“ die Querstraßen, damit der gesamte Verbund zusammenbleibt und sich keine Autos dazwischenschieben. Am Treffpunkt werden wir mit dem besonderen Rad natürlich häufig angesprochen und von Camillo, dem Warmshowers Host, erkannt. Wir sind erstaunt, wie wenig konfrontativ das Ganze hier während der Tour abläuft. Aus Berlin kennen wir da ganz andere Szenen von ausrastenden Autofahrern, die Fahrräder quer über die Straße werfen, um endlich weiterfahren zu können. Was den Verkehr und die Wartzeiten im Stau angeht, sind die Menschen hier irgendwie gelassener.

Gegen 23:00 Uhr sind wir wieder zurück im Hotel und sind heute dann auch mal länger alleine mit dem Tandem im Dunkeln unterwegs. Was uns an den ersten Tagen noch richtig nervös gemacht hätte ist jetzt schon fast Routine. Wir fühlen uns nicht unsicher, aber etwas Respekt vor der Gegend rund um unser Hotel bleibt natürlich bestehen.

Das ist vielleicht die Gelegenheit, noch ein paar unangenehmere Aspekte der Lage unserer Unterkunft in der Innenstadt (La Candelaria) zu erwähnen. Von den circa 6.000 Obdachlosen der Stadt (vor Corona waren es ca. 4.000) scheint ein sehr großer Teil in diesem Stadtviertel zu leben. Wir beobachten diese Menschen täglich dabei, wie sie die Müllbeutel am Straßenrand öffnen und alles Verwertbare heraussuchen. Getränkedosen und Getränkeflaschen, aber auch Kleidung und vor allem Nahrung. Alle Essensreste, die sie finden können, werden genutzt und meist sofort gegessen. Es sind so viele Obdachlose, dass man leider schnell abstumpft. Sie schlafen selbst tagsüber auf den Bürgersteigen und an den Straßenecken und man kann nicht einmal wirklich sicher sein, dass sie noch leben. Aber alle Passanten gehen an ihnen mehr oder weniger achtlos vorbei, also was sollen wir Touris da schon tun? An vielen Hausmauern liegen Haufen verrichteter Notdurft und wir beobachten einen Obdachlosen aus den Augenwinkeln dabei, wie er tagsüber in aller Öffentlichkeit hockend seine Notdurft in eine Plastiktüte verrichtet.


Ein Beispiel für den „informal work“-Sektor, ein Getränkestand, an dem wir immer wieder vorbeikommen, wenn wir etwas in der Stadt unternehmen.

„Glu-Glu-Glu“ (Gluck-Gluck-Gluck) … „Bienvenidos a la Promoción“ (Willkommen beim Sonderangebot) … Ansage des Straßenverkäufers, der Limonaden („Gaseosas“) für 1.000 Pesos (ca. 25 Euro-Cent) und Bier („Cervezas“) für 2.000 Pesos verkauft. Die Ansage läuft in Dauerschleife den ganzen Tag über einen Lautspecher an seinem mobilen Stand.

Playbutton klicken, um die Ansage zu hören.

Donnerstag 22.8.24 – Medellín (Ruhetag 7)

Schon wieder eine ganze Woche an einem Ort und bislang kein Ende in Sicht. Immer noch keine Aktualisierung im Paket-Tracker der Post!

Um halb zehn beginnt eine von uns gebuchte Tour ins Stadtviertel Moravia in der Comuna 4. Da dies kein touristisches Viertel ist, nutzt der Guide (wieder Milo) keinen Lautsprecher mit Mikrofon und Verstärker, und die Gruppe ist entsprechend klein. Treffpunkt ist an der Metrostation Caribe, und wenn man über die Fußgängerbrücke Richtung Osten geht, landet man sofort in Moravia. Mit unserer Gruppe kommt auch Gloria, die dort lebt und als „Community Leader“ tätig ist. Zuerst sind wir auf einem Hügel unterwegs. Dieser Hügel ist in den siebziger Jahren die Müllkippe Medellíns gewesen.

Die Eltern von Gloria waren schon in den Sechzigern aus der Region Cali hierher geflohen und betrieben zunächst Landwirtschaft. In den siebziger und achtziger Jahren kamen immer mehr Flüchtende, und als dann der Müll der ganzen Stadt kam, war er für diese sowohl Beschäftigung (Wertstoffe, Recycling, Baumaterial) als auch Versorgungsmöglichkeit, so dass sich die Bevölkerung damit arrangierte. Ein Foto von 1985 zeigt den gesamten Hügel mit einfachen Häusern und Welblechhütten bebaut. Die Politik hatte bis Anfang der neunziger Jahre andere Probleme (Gewaltkriminalität, Guerillas, Banden, Drogenkartelle) und griff nicht ein.

Dann wurde aber im Zuge der Transformation Medellíns eine neue Siedlung im Westen der Stadt errichtet, und alle Bewohner konnten kostenlos dorthin umziehen und erhielten eine Eigentumswohnung geschenkt (was aber nicht alle angenommen haben). Der Müll wurde ab dem Zeitpunkt an einen weiter von der Stadt entfernten Ort gebracht, und der ganze Müllberg wurde zu einem großen innerstädtischen Garten/Park umgebaut, mit einer eigenen Gärtnerei ganz obenauf. Der Rest Moravias (quasi an den Hügel angrenzend und relativ flach) wurde ebenfalls (auch durch Unterstützung der Community-Leader) lebenswerter gemacht, mit besserer Infrastruktur, Orten zum Verweilen, einem „Haus für Alle“ (eine Art Kulturzentrum).

Dann kam auch hier die Corona-Pandemie und warf die Stadt in vielen Dingen zurück. Die Menschen, die vom Straßenverkauf lebten, durften das Haus nicht mehr verlassen bzw. hatten keine Einkünfte, weil keine Kunden mehr auf der Straße unterwegs waren. Kolumbien war wohl sechs Monate im radikalen Shutdown. Menschen begannen wieder, ohne zu fragen Häuser auf der ehemaligen Müllkippe zu bauen und den Garten/Park zu zerstören. Sie verlegten selbständig Wasser, Gas und Elektrizität – wir sehen beim Rundgang an vielen Stellen oberirdisch laufende Wasserleitungen. Heute ist zwar noch etwas grün erhalten, und auch die Gärtnerei gibt es noch, aber es leben wieder eine ganze Menge Menschen dort, wo eigentlich ein Park war. Eigentlich wird von der seit acht Monaten amtierenden, eher rechtsgerichteten Regierung der Stadt erwartet, diesem Phänomen ein weiteres Mal Einhalt zu gebieten und eine ähnliche „Umsiedlung“ zu wiederholen, aber bisher ist noch nichts geschehen.

Als wir einen Stop am Sportplatz vor der Schule machen, sprechen uns immer wieder Schüler*innen an. Wir lernen, dass in Kolumbien die Grundschule fünf Jahre, die Weiterführende sechs Jahre dauert, dass Schulbildung kostenlos ist, in zwei Schichten vormittags und nachmittags abläuft (die rasant ansteigende Bevölkerungszahl kann nur so abgedeckt werden) und die Schulen im internationalen Vergleich nicht besonders gut sind. Dafür haben die Universitäten einen sehr guten Ruf. 50 % der Schulabgänger beginnt sofort zu arbeiten, die andere Hälfte teilt sich auf: entweder Universitätsstudium oder Duale Ausbildung über Sena. Und immer wieder wird wiederholt, dass 56% der Bevölkerung informell arbeitet, und 88% keine Einkommenssteuer zahlen müssen, weil sie unter dem Mindesteinkommen liegen. Die Mehrwertsteuer ist daher auch die wichtigste staatliche Einnahmequelle. Außerdem gibt es eine Transaktionssteuer von 0,4% auf alle Kontobewegungen (also Einzahlungen + Auszahlungen), die ebenfalls an den Staat fließt.

An einem Straßenstand bekommen wir alle vegane Empanadas mit frisch hergestellter Sauce zum Probieren. Das sind „Kirchen-Empanadas“ (Empanadas de Iglesia) – sie wurden für die Fastenzeit entwickelt und sind nur mit Kartoffel gefüllt. Bislang haben wir überall nur fleischgefüllte Empanadas gesehen, aber in der Nähe von Kirchen kann man anscheinend auch diese Art antreffen.

An einem Zwischenhalt, an dem es um die Befreiungs-Theologie und die Rolle der Priester in Moravia geht, wird uns außerdem nahegelegt, uns das Video „Misa Columbiana“ anzuschauen. Wir schauen uns den circa 20-minütigen Dokumentarfilm am späten Nachmittag im Hotel an und erhalten so noch etwas mehr Kontext zur heutigen Führung durch Moravia. Irgendwie werden wir das Gefühl nicht los, dass die gestern beschriebenen Obdachlosen im Viertel rund um unser Hotel genauso vom „Müll der Reichen“ leben, wie damals in den 70igern die Bevölkerung von Moravia. Und damit wir uns nicht falsch verstehen: Uns ist völlig bewusst, dass wir bei diesem „Müll der Reichen“ von unserem Müll sprechen, von dem wir auf dieser Jahrestour deutlich mehr erzeugen, als wir zuhause jemals für uns akzeptieren würden.

Zum Abschluss der Tour dürfen wir in den Erinnerungsraum im Kulturhaus. Das Kultuhaus wurde mithilfe einer Nichtregierungsorganisation (NGO) namens „Oasis Urbano“ erbaut, die von zwei Berliner Archtiekten in Medellín gegründet wurde. Es hat unter anderem einen Innenhof und ein großes Auditorium. Gloria erzählt uns von den über 100 Community-Leadern und dass sie vor einigen Jahren im Zuge eines Architektur-Studierenden-Austauschs nach Berlin reisen durfte. Sie ermuntert uns, bei uns zuhause ehrenamtlich für unsere Mitbürger aktiv zu werden. Auch wenn wir etwas für Moravia tun wollen, dürfen wir uns jederzeit an sie wenden. Sie trägt die ganze Zeit schon einen Beutel mit dem Brandenburger Tor mit sich. Am Ort des früheren Hauses ihrer Familie ist jetzt ein Kindergarten, der zu Ehren ihrer Mutter deren Namen „Mama Chila“ trägt. Und, obwohl die Mutter noch lebt, ist ihr Gesicht ebenfalls als Ehrung an eine Häuserfront gemalt. Die Mutter wurde übrigens vom Staat enteignet, nachdem sie das Kaufangebot für ihr Haus wegen des zu niedrigen Angebotspreises nicht angenommen hatte. Gloria, ihre Mutter, Glorias Tochter und ein 11 Monate altes Enkelkind leben jetzt irgendwo zur Miete und hoffen auf späte Gerechtigkeit, nicht nur durch symbolische Gesten sondern auch finanziell.

Als wir nach Abschluss und Metrofahrt noch einen Kaffee trinken gehen (ca. 46 Stunden nach der Bezahlung der Zollgebühren) gibt es immer noch keine Neuigkeiten zur Auslieferung des Pakets. Wir sollten innerhalb von 24 bis 48 Stunden ein Update erhalten. Also weiter warten und eventuell wieder anrufen!

Zum Abendessen gehen wir heute in ein Café „Bohemio de Clausura“, das nur ein paar Straßenecken entfernt ist (und das wir erst gestern wahrgenommen haben, es steht außen nichts am Haus außer ein Baustellenschild). Wir essen eine Arabische und eine Mexikanische Bowl und sind froh, dass wir in dieser Großstadt immer wieder sehr gutes Essen finden.

Vor dem Bohemio stehen auf dem Platz einige Tische, an denen Schach gespielt wird. Teilweise tragen die Spieler grüne T-Shirts des lokalen Schachvereins. Viktor schaut eine Zeit lang bei einer Partie Blitzschach zu (2 Minuten Zeit für jeden Spieler). Vielleicht setzt er sich ja in den nächsten Tagen mal zu einer Partie hin.

Freitag 23.8.24 – Medellín (Ruhetag 8)

Heute nach dem Frühstück erreicht Viktor wieder einmal die Post (unser Sohn Julius hatte schon nachgefragt, weshalb die 1&1-Telefonrechnung so hoch ist – die gesammelten Telefonate mit der Panamaischen sowie der Kolumbianischen Post schlagen ins Kontor). Wir erfahren, dass unser sehnlichst erwartetes Paket bis zum 29. August ausgeliefert werden kann. Das heisst für uns: Es könnte jetzt jeden Tag eintreffen, aber evtl. auch erst in einer Woche! Wir sind geschockt!

Nach ein paar Atemübungen zum Beruhigen („Ommmmmmmmmmh“) 😉 verlassen wir doch das Hotelzimmer und wollen einerseits versuchen, uns um Ersatz für die Einstellschraube an unserer Rohloff-Schaltung zu kümmern, andererseits eine neue 2032-Knopfzellenbatterie für Viktors Helm-Rücklicht kaufen. Wir haben uns überlegt, dass wir mit funktionierender Schaltung auch einfach schon weiterfahren könnten. Das Paket könnte innerhalb Kolumbiens ja vielleicht mit einem Bus nachkommen. Auf unserer Busfahrt nach Medellín haben wir gesehen, wie dem Gepäckmenschen Pakete und sogar Paletten mit Eiern mitgegeben und dann an anderen Orten von den Empfängern abgeholt wurden.

In der Straße der vielen Fahrradläden fragen wir bei Ideal-Bike, bei denen wir das Tandem eigenlich nochmal warten lassen wollen (Ketten und Bremsscheiben prüfen, ggf. wechseln). Die haben keine passenden Einstellschrauben, aber wir werden in eine Querstraße geschickt, wo uns eine solche vielleicht durch Aufbohren einer normalen M5-Schraube hergestellt werden könnte. Auf dem Weg dahin liegt ein größerer Fahrradladen. Viktor zeigt dort die gebrochene Einstellschraube vor und tatsächlich hat der Laden ähnliche Einstellschrauben von normalen Felgenbremsen vorrätig. Sie sind zwar etwas kürzer aber wir nehmen mal drei Stück mit, um damit zu experimentieren. Eigentlich macht dieser Laden sogar einen besseren Eindruck als Ideal-Bikes, aber mit denen sind wir ja quasi schon zur Wartung des Tandems verabredet.

In einer Apotheke fragt Viktor nach der Batterie, wird aber in den Häuserblock gegenüber verwiesen. Wir schauen, welcher Laden es wohl sein könnte, da steht ein etwa zehnjähriger Junge mit einem kleinen Stand mit Batterien auf dem Bürgersteig. Wir bleiben stehen und werden sofort von ihm angesprochen. Jutta nimmt gleich eine 2032-er Batterie, aber der Junge greift eine Ziplock-Tüte, sucht darin herum und meint mit einer Batterie in der Hand, das wäre dieselbe. Viktor erfragt den Preis, er sagt 10.000 Pesos (ca. 2,50€). Das erscheint uns zu teuer, und wir lehnen ab. Der Junge sagt 8.000 Pesos. Wir fragen, ob auch 5.000 Pesos reichen. Er willigt ein! In diesem Alter schon ein toller Geschäftsmann – wir müssen an unseren zehnjährigen Neffen Theo denken, der das glücklicherweise noch nicht sein muss.

Anschließend überlegen wir uns, in irgendeine klimatisierte Mall zu gehen und entscheiden uns für die „Medellín-Mall“. Diese ist zu Fuß zu erreichen. Der Weg dorthin führt an sehr vielen Obdachlosen vorbei. Mitten auf dem Bürgersteig ziehen sich zwei davon gerade Spritzen auf. Und dann kommen wir am Ziel an, das sich als eine große Halle mit vielen kleinen Schuhständen entpuppt, also leider doch keine klimatisierte Mall ist.

Wir steigen daher in einen Metrobus, eigentlich mit dem Ziel der „Unicentro-Mall“, mit einmaligem Umsteigen. Da in der Gegenrichtung aber eine Station „Berlín“ heißt und wir ja keinen Zeitdruck haben, fahren wir erst in die Gegenrichtung, um ein Foto zu machen. Kurz vor Berlín, das ganz schön weit oben am Berg liegt, entdeckt Viktor eine Bar Borussia in gelb/schwarz. Der Bus ist leider nicht klimatisert (wie in Panamá) und wir fahren dann recht lange zurück und weiter Richtung Mall, steigen dann aber nicht mehr um, sondern gehen die restlichen Kilometer zu Fuß.

Das ist ein Glück, denn auf dem Weg kehren wir im „Magellan-Lab“ auf einen Kaffee (und ein Baguette) ein. Der Besitzer, Willy Magellan, spricht uns auf Deutsch an. Seine Mutter kommt aus Müllheim (Markgräfler Land – Partnerstadt von Hohen Neuendorf), er selber ist in Frankreich geboren und aufgewachsen. Außerdem reist er viel und ist 2018/19 von der Magellan-Straße nordwärts mit dem Fahrrad gefahren. Er kommt immer wieder an unseren Tisch, zeigt uns Bilder und gibt uns Tipps. Sein Baguette bekommt er jeden Morgen von einem Deutschen Bäcker in der Nachbarschaft, der Thomas heißt. Die Welt ist doch irgendwie klein!

Die Unicentro-Mall durchlaufen wir dann einmal, mehr zum Zeitvertreib, und gehen dann zu Fuß zurück zum Hotel. Google schickt uns einen ganz tollen Weg durch grüne, ruhige (!) Wohnviertel, Parks, über zwei Fußgängerbrücken. Am Fluss gibt es eine größere Sandfläche zur Naherholung und eine einladende Promenade. Irgendwo steht ein Bauzaun, beschriftet mit „Transformation“, aber es gibt einen Kontrolleingang zum Gelände. Dort findet gerade eine kostenpflichtige Ausstellung statt, aber wir werden über das Ausstellungsgelände eskortiert, als wir fragen, ob der Weg für Fussgänger passierbar ist.

Nach einer Pause im Hotel (inklusive Regenpause) gehen wir noch einmal im Rooftop-Burgerladen in der Nähe essen. Der Laden brummt, wir müssen warten, dass ein Tisch frei wird. Aber es lohnt sich. Viktor ist begeistert vom Blauschimmelkäse-Burger, der mit echtem Roquefort belegt zu sein scheint. Es gibt hier also nicht nur den säuerlichen, weißen Quietsche-Käse „Queso Costeno“.

Da wir jetzt auf jeden Fall noch über das Wochenende in Medellín bleiben werden, buchen wir uns für Sonntag noch eine Tagestour nach „Guatape“, wo es eine sehenswerte Altstadt und einen großen Felsen zu besichtigen (und besteigen) gibt. Und für morgen nehmen wir uns den mit der Seilbahn erreichbaren Arvi-Park vor, ein 1.700 Hektar Naturschutzgebiet in den Bergen am Rande von Medellín, in dem es geführte Wanderungen gibt.

Samstag 24.8.24 – Medellín (Ruhetag 9)

Wir wollen heute den Arvi-Park besuchen, und es wird geraten, dieses gleich früh zu tun, also fahren wir so zeitig mit der Metro los, dass wir zur Parköffnung um neun dort sein können. Wir müssen erst mit einer Gondel drei Stationen hoch bis Santo Domingo und dort umsteigen (und extra Geld bezahlen) in eine weitere Gondel bis Arvi. Am Umsteigeort steht ein Aufsteller, dass der Betrieb unterbrochen ist – ab neun Uhr kann man aber fahren, erfahren wir, und stellen uns an. Diese zweite Gondel bewegt sich viel schneller und steiler als die erste und dauert trotzdem gute 20 Minuten. Es geht zunächst über bebaute Gegend, dann noch vereinzelte Häuser, und dann über sehr viel grün.

Oben ist es richtig frisch, und es erwartet uns ein Markt mit Kunstwaren und Verpflegung direkt an der Gondelstation. Es wurden eigentlich geführte Wanderungen empfohlen, aber als wir uns Tickets kaufen wollen, sagt man uns, dass eine geführte, einen Kilometer lange Tour für Ausländer 60.000 Pesos (ca. 15 Euro) kostet, und wenn man die lange, vier Kilometer lange Runde ohne Führung laufen will, 60.000 Pesos, also nochmal obendrauf, wenn man beides machen möchte. Mit jedem Ticket darf man zweimal die Toilette benutzen – so etwas hatten wir auch noch nicht. Nach einiger Überlegung nehmen wir nur das Ticket für die vier Kilometer lange, ungeführte Tour.

Es gibt für die Tour keine Wanderkarte mehr, weil zu viele das Papier unterwegs weggeschmissen haben. Uns wird also der Weg erklärt und wir sollen mit dem Handy ein Foto der Wanderkarte machen.

Es sollen unterwegs aber auch Schilder aufgestellt sein. Wir werden von einem Mitarbeiter durch ein Tor geführt und losgeschickt. Auf dem Gelände des Arvi-Parks haben die Spanischen Kolonialherren seinerzeit Tagebau betrieben. Heute wachsen hier sehr viele Orchideen und Bromelien zwischen und auf den auch dicht stehenden Bäumen. Diese Art von Vegetation (auf den Schildern steht „neotropical“ – neutropisch?) ist tatsächlich neu für uns auf dieser Tour – wir haben ja schon viel Grün gesehen, aber dieses hier ist anders. Komischerweise hören und sehen wir keine Tiere, bis auf Insekten. Der Weg ist größtenteils sehr schmal, teilweise steil bergauf und bergab und nicht wenig beschwerlich. Im Gegensatz zur Stadt ist es so schön ruhig, wir hören nur zweimal andere Gruppen reden und einmal ein bisschen Autoverkehr. Also richtig erholsam … besonders für die Ohren und das Hirn! Der Rundweg ist allerdings nur 2,4, nicht 4 km lang, das hatten wir evtl. falsch verstanden (auf der Karte unten rechts stand es auch so 😉 ).

Wieder am Ausgangspunkt kaufen wir an einem Stand zwei Empanadas mit Kartoffel und einen Quinoa-Linsen-Bratling und fahren dann wieder nach Medellín. Wir nehmen Euch da mal ein Stück mit, denn die Fahrt über den letzten Hügel und der Blick hinunter nach Medellín sind schon ziemlich eindrucksvoll.

Falls Ihr Euch auch schon mal gefragt habt, wieso das Stahlseil einer Seilbahn kein Ende hat … hier ist die Erklärung.

In Santo Domingo muss man in dieser Richtung das eine Gondelgebäude verlassen, über die Straße zur anderen Linie gehen und dort wieder die Stufen hoch. Das ist gegen jede Intuition, und deshalb steht ein Mitarbeiter der Seilbahn beim Aussteigen bereit und erklärt das allen Passagieren (inklusive Zitat „en contra cada intuición“). Auf dem Hinweg ging es zum Umsteigen einfach über die Fußgängerbrücke, die beide Seilbahn-Linien verbindet. Die ist aber wohl eine Art „Einbahnbrücke“.

Wieder in unserem Stadtviertel angekommen, gehen wir noch mit unseren Getränkeeinkäufen einen Kaffee in „El Bohemio de Clausura“ trinken und warten den ersten Regen ab. Während des zweiten Regens sind wir im Hotel, Viktor repariert die Schaltung des Tandems mit den gekauften Einstellschrauben und macht den Ölwechsel bei der Rohloff-Schaltung, der alle 5.000 Kilometer fällig ist. In der Anleitung steht, dass man 25 ml Spülöl zu den 12,5 ml Getriebeöl dazugeben soll. Am Ende soll man dann alles absaugen. Wir bekommen auch nach über einer Stunde Wartezeit insgesamt nur 25 ml abgesaugt, der Rest bleibt wohl im Getriebe und wird mit 12,5 ml frischem Öl wieder aufgefüllt. Hoffen wir mal, dass das alles seine Richtigkeit hat.

Unser Hinterrad hat seit Cartagena auch eine merkliche Unwucht, was aber zum Glück nicht an den neuen Felgen liegt. Die sind bislang top. Aber der Mantel sitzt irgendwie nicht richtig. Da in unserem Paket aus Deutschland auch neue Schwalbe Pick-Up Mäntel enthalten sind, werden wir das Problem dann hoffentlich auch schnell lösen. Dabei können wir dann auch gleich die Felgen inspizieren und schauen, ob sich nach 500 Kilometern möglicherweise schon wieder erste Risse zeigen.

Unwucht am Hinterrad

Heute gehen wir erstmals hier im Hotel abendessen. Das Angebot ist überschaubar: Burger, Schnitzel oder Spieße vom Rind, Schwein oder Huhn. Der Burger mit Huhn ist heute leider aus. Die Lateinamerikanische Musik ist irre laut, aber dafür erhalten die Gäste die Fernbedienung für „YouTube Music“. Ein Pärchen ganz vorne am Fernseher fragt uns nach einem Musikwunsch. Viktor fällt spontan nur „99 Luftballons“ ein, weil er etwas Deutsches wünschen möchte, das international vielleicht bekannt ist. Und schon bald läuft Nena in der Rooftop-Bar unseres Hotels in Medellin. Da ein Gast ein „Rocky Horror Picture Show“ T-Shirt trägt, schiebt Viktor gleich noch „Hot Patootie – Bless my Soul“ von Meatloaf nach und erhält dafür ein Thumbs-Up vom Nachbartisch.

Sonntag 25.8.24 – Medellín (Ruhetag 10)

Wir haben uns für eine Tagestour nach Guatapé angemeldet und müssen dafür um 7:20 Uhr an der Metro „Estadio“ sein. Wir gehen zeitig los, um noch irgendwo etwas zu frühstücken und landen im Peter Pan. Viktor gibt einem Obdachlosen einen Kaffee und ein Brötchen aus, und nur ein paar Minuten später fragt schon der nächste – so etwas spricht sich offenbar sehr herum.

Der Bus steht an der Metrostation bereit und ist vollbesetzt. Wir sind vierzig Teilnehmende, haben aber zwei Guides: David für die Spanisch sprechenden, Felipe für die Englisch sprechenden (er hat einen Großvater aus Deutschland, ist aber selber aus Venezuela). Wir fahren ca. zwei Stunden und überholen auf der Fahrt in die Berge zahllose Radfahrer, auch schon ziemlich weit oben – die müssen richtig früh aufgebrochen sein. An einem Paísa-Restaurant gibt es eine Pause, bevor es auf den kurvenreichen, steilen Teil der Strecke geht. Das erste Ziel ist der „La Piedra del Peñol„, ein Inselberg/Fels, auf den man über eine 705-stufige Treppe steigen kann (machen täglich wohl rund 3000 Menschen, als wir ankommen, ist es noch nicht so sehr voll). Der Aufstieg kostet 25.000 Pesos, der Abstieg ist gratis … 😉 … so erklären es uns jedenfalls die Guides. Sowohl am Fuß als auch oben auf der „Piedra“ gibt es viele Stände, die oben werden über eine Lastenseilbahn beliefert. Viktor zögert ein wenig, ob er sich wegen seiner Höhenangst (spanisch: „Vertigo“) den Aufstieg zutrauen will, überwindet sich aber und schafft es auch bis oben. Der Feuerwehrmann auf halber Höhe will ihm partout nicht das Tor zur Abstiegsseite öffnen und ihn umkehren lassen. Der schlimmste Teil sei doch schon geschafft – es sei ab dort nicht mehr so steil und die Treppe verliefe auch nicht mehr so weit außen. Auf zittrigen Beinen und mit beiden Händen rechts und links am Geländer geht es also weiter nach oben. Von oben hat man dann eine Wahnsinns-Aussicht auf den sehr zerklüfteten Stausee. Richtig genießen kann das vor allem eine von uns, den der andere denkt schon an den Abstieg, der sich aber als weniger schlimm herausstellt als der Aufstieg.

Panorama von oben

Der Stausee wird von 23 Flüssen gespeist, und gerade ist das Wasser ein paar Meter nierdriger als normal, weil dieses Jahr „El Niño“-Jahr ist. Im kommenden Jahr wird ein „La Niña“-Jahr erwartet, und dass der See sich dann wieder komplett füllt. Für die Flutung mussten zwei Orte umgesiedelt werden. Die Bevölkerung hat vorher von Landwirtschaft gelebt, was nach der Flutung zumindest zu Beginn durch Fischerei ersetzt wurde. Heute leben sie zu 95% vom Tourismus-Geschäft.

Nach dem Abstieg und haben wir noch etwas Freizeit und werden vor sämtlichen Restaurants laut begrüßt, die angebotenen Speisen werden angepriesen und wir werden mit einem freundlichen „a la orden“ (zu Ihren Diensten!) hineingebeten. Viktor trinkt einen Kaffee und filmt einen dieser „Restaurant-Schreier“ kurz von drinnen:

Dann fahren wir mit dem Bus weiter nach Guatapé, einem der Orte am größten See Antioquias. In früheren Zeiten haben in einer Straße die reicheren Menschen gelebt und ihre Häuser an den Sockeln mit Reliefs bunt verziert. Als die ersten Touristen kamen, um sich diese anzuschauen, hat der ganze Ort begonnen, die Häuser auf ähnliche Weise zu bemalen – heute ist es der farbenfroheste Ort von Kolumbien. Es ist zwar keine Pflicht, sein Haus so zu verzieren, aber der soziale Druck ist so hoch, dass wirklich jedes Gebäude bunt ist.

In zwei Gruppen (Spanisch und Englisch) erhalten wir eine Führung durch den Ort, bevor es in einem Restaurant ein inkludiertes Mittagessen gibt (vier Essen zur Auswahl, die schon auf der Hinfahrt getroffen werden musste). Wir sitzen mit zwei Dominikanern (aus der Dominikanischen Republik) am Tisch und erzählen uns gegenseitig von unseren Reisen. Sie schlagen uns vor, nach unserer Rückkehr zuhause einen großen Globus aufzustellen, auf den wir für jedes bereiste Land ein Selfie von uns kleben, das genau die Form des Landes hat.

Im Ort fahren massenhaft kleine bunte Taxis herum, sogenannte „Moto-Chivas“, und bieten den Touristen ihre Rundfahrt-Dienste an. Sie sind an die großen Partybusse (Chivas) in Medellín angelehnt.

Mit vollem Magen gehen wir bis zu einem Bootsanleger, der durch das Niedrigwasser ziemlich weit draußen liegt und über einen sehr steinigen „Weg“ – eher Seegrund – zu erreichen ist. Auf der einstündigen Bootsfahrt über einen kleinen Teil des Stausees werden wir unterhalten von einem typischen Sänger dieser Gegend, der herumgeht, unsere Herkunft erfragt und dann etwas zu dem Land oder der Stadt improvisiert. Dieser gesang wird hier in der Region Antioquia „Trova Paisa“ genannt.

Wieder an Land haben wir eine Stunde Freizeit in Guatapé, um vier ist Treffpunkt auf dem Hauptplatz vor der Kirche. Nach einem Kaffee teilen wir uns noch eine Süßspeise, die man in Kolumbien laut Felipe unbedingt gegessen haben muss, eine „Oblea Columbiana“. Das ist eine Art Sandwich aus zwei Oblaten, mit Hüttenkäse, Arequipe (karamelisierte, stark gesüßte, dickflüssige Kondensmilch) und Brombeer-Konfitüre gefüllt. Schmeckt besser, als es sich anhört.

Auf dem Platz vor dem kleinen Oblaten-Café spielt derweil ein außergewöhnliches Straßenmusik-Duo aus Cello und Gitarre.

Oblea

Alle sind pünktlich am Treffpunkt, und es wird angesagt, dass wir pünktlich wieder in Medellín sein werden. Aber es ist Sonntag-Abend-Stau, und wir brauchen statt zwei Stunden leider drei Stunden für die 79 Kilometer zurück nach Medellín. Auf dieser Fahrt geht es durch einen sehr langen Tunnel, in dem weder Fahrräder noch Motorräder erlaubt sind.

Partymeile in Medellín, Stadtviertel „Poblado“. Von allen Seiten Musik.

Am Aussteigeort isst Viktor in einer Art Partymeile noch zwei Empanadas, bevor wir in einer „Botero-Metro“ zurück nach San Antonio fahren. Der ganze Zug ist wohl eine Ehrung des 2023 verstorbenen Künstlers. Wo sonst Werbung hängt, sind Verweise auf Kunstwerke von ihm (im Antioquia-Museum), und sein Konterfei klebt an den Stirnseiten mit einem „Gracias“. Selbst außen sind die Wagen mit seinem Namen beschriftet.

Nach dreizehn Stunden sind wir wieder im Hotel und verlängern unseren Aufenthalt wieder einmal (ansonsten müssten wir morgen weiterfahren).

Woche 20 (12.8.24 – 18.8.24) – Lorica – Medellín

Montag 12.8.24 – (079) – Lorica – Montería

Gesamt: 4.873,10 km

Da es keine Kühlmöglichkeit für Getränke im Zimmer gibt, wir heute keine lange Strecke vor uns haben und der Supermarkt ab sieben Uhr morgens geöffnet ist, checken wir so aus, dass wir im „Olimpica“ etwas frühstücken und kalte Getränke kaufen können. Dadurch ist es beim Losfahren schon wieder recht warm und voll auf der Straße.

Schon hinter der Brücke, die aus Lorica herausführt, beruhigt sich der Verkehr (anscheinend fahren die Mopeds alle nur innerorts), die „21“, auf der wir heute fahren, ist super ausgebaut und fast leer, daher sehr angenehm leise zu befahren. Wir fahren wieder durch grüne Feuchtgebiete, in denen Rinder gehalten werden. Heute sind auch relativ viele Kälber dabei. Es ist die für die Region typische Rasse mit dem Hautlappen unter dem Hals (Zebu?). Bei den männlichen Tieren ist außerdem der Buckel besonders stark ausgebildet.

Irgendwann ist uns dann auch nach einem Kaffee, morgens im Supermarkt gab es keine Heißgetränke, die Maschine ist defekt. An einer Tankstelle mit Markt halten wir deshalb an. Leider ist auch hier der angeschlossene Laden geschlossen, wie schon oft gesehen. Aber nebenan gibt es ein Restaurant, dessen Betreiberin schnell bei der Tienda nebenan Milch besorgt, damit sie uns dann zwei Tassen Kaffee mit Milch bringen kann. Diese entpuppen sich als heißes Zuckerwasser mit Milch und ein bisschen Farbe 🙂 , aber etwas Warmes braucht der Mensch… . Zum Bezahlen suchen wir die Dame, und schließlich geht die Tienda-Betreiberin sie suchen. Irgendwie hat sie kein Interesse, uns abzukassieren. Wir werden das Geld aber noch an die Tochter (?) los.

An einer Straßenmeisterei will Jutta die Toilette nutzen. Viktor fragt derweil nach einem Wasserschlauch, um das Tandem abzuspritzen, bevor etwas von dem gestrigen Dreck in den Freilauf geraten kann und er wieder anfängt zu knacken. Ein Polizist schickt uns neben das Gebäude und besorgt von irgendwo einen Gartenschlauch, sogar mit Druckdüse. So kann der gröbste Dreck abgewaschen werden.

Im Laufe der Fahrt – heute ist es besonders flach ohne nennenswerte Steigungen – wird die Gegend langsam etwas trockener und es kommen rechts und links immer häufiger Maisfelder dazu.

Bis wir dann den Großraum Montería erreichen und es städtisch wird. Der Verkehr nimmt wieder deutlich zu und wir fahren auf einer langen zweispurigen, von Bäumen gesäumten und daher angenehm schattigen Straße (wenn man das bei über 30 °C so sagen kann) in die recht große Stadt hinein.

Kurz vor dem heutigen Ziel steht eine riesige Shopping-Mall, und wir beschließen, dort ein Eis zu essen. Als wir uns zwischen parkende Motorräder stellen wollen, kommt schnell eine junge Frau und warnt uns, dass das zu gefährlich sei – wir sollten lieber in den Keller, da wäre Security. Dafür müssten wir nur das Tandem ein paar Stufen rauf in die Mall tragen und von dort runter. Das ist für uns nicht machbar. Jutta sucht rechts herum nach einer Einfahrt direkt in den Keller, findet aber nichts. Ist nämlich links herum, wie uns dann ein Security-Mann zeigt. Also parken wir sicher am Fahrradabstellplatz der Mall:

Die Vorteile, wenn man mit dem Fahrrad kommt

Wir machen also noch unsere Eispause, fahren aus der Tiefgarage heraus und können dann zu Fuß über einen Fußweg zum Hotel laufen, so nah liegt dieses an der Mall.

Unser Sites Hotel ist recht luxuriös und befindet sich ebenfalls in einer Shopping-Mall. Es besitzt einen Rooftop-Pool mit Bar. Unser Tandem wird in einen getrennten Bereich in der Tiefgarage der Mall geparkt, wo auch größere Radgruppen immer ihre Fahrräder abstellen dürfen. Größere Radgruppen? Davon haben wir nun schon länger nichts mehr gehört oder gesehen. Kolumbien soll ja DAS Radfahrland in Lateinamerika sein.

Zum Abendessen haben wir uns ein Libanesisches Restaurant in der gleichen Mall wie das Hotel ausgesucht. Leider existiert es nicht mehr.

Stattdessen finden wir aber, ebenfalls ganz nahgelegen, das „La Fresca Cocina Natural“ und werden dort ganz glücklich satt.

Dienstag 13.8.24 – (080) – Montería – Planeta Rica

Gesamt: 4.929,21 km

Das Hotelzimmer ist partout nicht warm zu bekommen – unsere Temperaturwahl der Klimaanlage wandert auf 25°C und sogar 30°C, aber sie läuft volle Pulle weiter und kühlt, kühl, kühlt. Macht man sie ganz aus, steigt die Temperatur schnell auf knappe 30 Grad. Also bleibt sie eingeschaltet und kühlt den Raum fleißig runter. Egal, wir haben in diesem Luxushotel wieder eine richtige Bettdecke und nicht nur ein dünnes Laken zum Zudecken. Mit der Decke kann Jutta das erste Mal seit langem wieder richtig gut und tief schlafen. Bei den sonst tropischen Temperaturen klappt das nicht so. Sie ist eben ein echter Kaltschläfer, 16 °C ist die ideale nächtliche Zimmertemperatur … auch in den Tropen. Viktor schläft halt mit kaltem Kopf. Er erwägt noch kurz, die Merino-Mütze aufzuziehen, aber die befindet sich in einer Radtasche am Tandem in Keller.

Nachts gewittert es wieder einmal, und morgens beim Aufstehen um 5 Uhr regnet es weiterhin. Der Regenradar sagt kein Ende voraus, die Straßen um unser Hotel stehen unter Wasser. (Das scheint hier überall absolut normal zu sein, hier gibt es halt nicht alle paar Meter einen Gulli, sondern eher längere Gullis in großen Abständen, und dann fließt das Regenwasser halt lange auf der Straße, und sie trocknet erst, wenn es nicht mehr regnet …) Wir beeilen uns also nicht. Viktor telefoniert noch einmal mit DHL, um an Informationen zu dem Kolumbien-Paket zu kommen, dass seit dem 27.7. am Flughafen in Medellin hängt, wir packen schon mal das Tandem, und dann frühstücken wir relativ gemütlich. Es gibt sogar schwarzen Tee – Viktor erwischt dummerweise Kamillenbeutel, die sich in der gereichten Holzkiste dazwischengeschummelt haben. Na ja, mit einem weiteren Teebeutel Schwarztee wird daraus ein hervorragender Schwarztee-Kamille-Cuvée.

Da unsere Taschen und die Deutschland-Fahne bei der letzten Regenfahrt sehr viel Dreck abbekommen haben, befestigen wir vor der Abfahrt den abgefallenen Spritzschutz am hinteren Schutzblech wieder. Das geht allerdings nur noch mit schwarzem Panzertape, das wir natürlich mitführen. Neben Kabelbindern ist Panzertape eigentlich das wichtigste Werkzeug und Ersatzteil, das man auf so einer Tour mitführt.

Wer kennt ihn noch nicht, den Ablaufplan für Ingenieure?

Als wir gegen acht Uhr losfahren, kommt von oben kein Regen mehr, es sind nur noch die Straßenränder überschwemmt. Der Radweg, den es hier tatsächlich gibt (und den Komoot auch kennt), können wir nicht nutzen. Er ist einfach zu kaputt und auch noch überschwemmt. Jede braune Pfütze könnte ein tiefes Schlagloch sein, in dem wir mit dem Tandem verschwinden oder nur eine flache Kuhle, die man einfach durchfahren kann. So bleibt uns nur die nasse Straße, auf der die Pfützen aber die gleichen Gefahren bergen. Mehrmals werden wir angehupt, weil wir solche „Bermuda-Dreieck-Pfützen“ in der Stadt umfahren. Überraschend schnell sind wir zum Glück an den Neubau- und Hochhaussiedlungen vorbei, dann kommen noch ein paar Holz-/Wellblechhütten, und nach einer halben Stunde liegt die Stadt hinter uns.

So platt es gestern war, so hügelig ist es heute. Sowohl hügeliges Weideland als auch teilweise felsige Hügel. An einer Stelle am Ende einer Steigung sind am Hügel alle paar Meter kleine Verkaufsstände aus dem blanken Fels gestemmt – alle verkaufen das gleiche – irgendwas in Bananenblätter eingewickeltes, vermutlich Tamales. Eine Frau stolpert gerade in Gummischuhen mit einer Kiste Nachschub einen steilen Trampelpfad herunter – das sieht gefährlich aus.

Verkaufsstände aus dem Fels gestemmt am Straßenrand

Es ist relativ wenig Verkehr, von den Motorrädern einmal abgesehen. Wir überholen einen Radfahrer, der das nicht auf sich sitzen lässt und sofort wieder an uns vorbeifährt. Er tritt ziemlich schnell in die Pedale – seine Schaltung scheint defekt zu sein. Mit ihm fahren wir eine ganze Zeit über, bis er über den grünen Mittelstreifen nach links abbiegt.

Einen von einem Motorrad begleiteten Langstreckenläufer, den wir überholt haben, treffen wir bei einer Toilettenpause an einer Tankstelle wieder und kommen ins Gespräch. Er erzählt uns von einer ganz neuen Straße zwischen Caucasia und Medellin, die nicht über diese ganz hohen und nebligen Berge führt. Da müssen wir einmal nachforschen, ob wir eventuell doch keinen Bus nehmen „müssen“. Als Jutta dieses nachmittags prüft, sehen wir dennoch über 5000 Höhenmeter, und dummerweise nicht genügend Orte an der Strecke, in denen man übernachten könnte. So wie es spontan aussieht, ist das leider auch keine realistische Alternative für uns.

An einer Tankstelle fragt Viktor nach Kaffee mit Milch. Sie haben nur schwarzen („tinto“) Kaffee. Er nimmt trotzdem einen. Wieder einmal ist er sehr, sehr süß, und er fragt die Angestellte danach. In größeren Filialen hätten sie zwei Thermoskannen, eine mit und eine ohne Zucker, aber hier haben sie nur eine, und alle wollen mit Zucker, also ist der Kaffee schon gesüßt. Punkt! Blöd nur, wenn man ihn ohne Zucker haben möchte …

Klein, schwarz und stark gesüßt.

Unser Ziel heute ist nicht nur die „reiche Küste“ / Costa Rica sondern der „reiche Planet“ / Planeta Rica. Eigentlich wäre richtiges Spanisch „Planeta Rico“ (eine der wenigen Ausnahmen von der Regel „alles was auf ‚a‘ endet ist weiblich“: el Planeta rico). Stört aber wahrscheinlich niemanden! Die Stadt mit 66.000 Einwohnern ist ein Zentrum der Viehhaltung, das „Reichhaltige“ ist wahrscheinlich eher die Umgebung, denn hier in den Straßen finden wir viele geschlossene Läden und z.B. ein großes, tiefes Loch auf dem – immerhin vorhandenen – Radweg.

Noch ein paar weitere Impressionen aus dem Ort:

Unser Hotel liegt direkt an einer der zwei Hauptstraßen, und wir erhalten wie immer eines der lauten Zimmer zur Straße. Dafür kann unser Tandem aber im Foyer stehenbleiben, neben den Motorrädern von Bediensteten und – vermutlich – Freunden, die teilweise mit laufendem Motor bis direkt vor die Rezeption rollen und den Motor dort noch ein paar Minuten laufen lassen. Unser Zimmer ist sehr geräumig, mit „Elvis“ an der Wand und einem Balkon.

Viktor kann sich dadurch nochmal direkt im Foyer vor der Rezeption an die Rohloff-Schaltung machen, denn es fehlt uns ja seit ein paar Tagen in den Anstiegen der leichteste Gang. Wie sich schnell herausstellt ist die obere Einstellschraube der Schaltbox, die am Anfang unserer Tour schon verbogen wurde, nun endgültig gebrochen. Das sieht nicht gut aus. Wir versuchen, die Situation etwas zu verbessern, indem wir das abgebrochene Stück wieder etwas zurückschrauben und es mit Panzertape (jaaaaa das Allzweck-Mittel!) sichern, aber wir brauchen wirklich dringend die Ersatzteile aus unserem Kolumbien-Paket.

Obere Einstellschraube mit Panzertape

Nachmittags suchen wir verschiedene Orte auf, an denen es Heladerias (Eisdielen) geben soll, aber entweder ist inzwischen ein anderer Laden dort eingezogen oder sie hat geschlossen. Immerhin finden wir die geöffnete Casa Rosa, wo es Kaffee gibt und für Viktor Kokostorte (und für Jutta ein Erdbeerdessert). Bei diesem Rundgang stellen wir fest, dass die Stadt doch ganz schön ist – also „vergleichsweise“ schön. Wenn man die Hauptstraße nicht verlässt, bekommt man ja kein echtes Bild. Unter anderem fliegen hier wahnsinnig viele grüne Sittiche, sitzen auf Bäumen und Stromleitungen und machen ordentlich Krach:

Abends gehen wir erst bei Olimpica Getränke kaufen und danach Abendessen mit viiiiel Fleisch, „Patacones Mixto“ – ein Berg Fleisch auf frittierter Bananenunterlage, den selbst Viktor nicht ganz schafft. Juttas Veggie-Sandwich hat sogar den Restaurant-Namen eingebrannt.

Mittwoch 14.8.24 – (081) – Planeta Rica – Caucasia

nur 90m vor dem Hotel

Heute ist Juttas Geburtstag, das Paket nach Deutschland soll endlich ausgeliefert werden und wir wollen heute die 5.000 Kilometer schaffen. Für Letzteres müssen wir nur einen kleinen Umweg von ein bis zwei Kilometern fahren, sonst reicht die Strecke nur knapp.

Nach dem frühen Aufwachen riecht es im Hotelzimmer ziemlich stark nach Benzin. Unangenehm und ungesund! Den Grund erfahren wir, als wir gegen sechs an der Rezeption sind: eines der sechs im Foyer geparkten Motorräder hat einen undichten Tank. Toll, dass man das im ganzen Hotel riechen muss! Um Punkt sechs sitzen wir auf dem Rad – die erste Punktlandung 🙂 .

Es ist bedeckt, aber trocken, ein bisschen windig und angenehm kühl. Wir fahren weiterhin durch sehr viel Grün am Straßenrand, teilweise Teak-Alleen, teilweise Rinderweiden, auch kurz Eucalyptus. Wenn man sich die Bäume nicht so genau anguckt, fühlt es sich fast wie in Norddeutschland an. Na ja, ein wenig hügeliger ist es hier auch. Als nach erst 45 Minuten eine Straßenmeisterei mit 24 Stunden geöffnetem Restaurant kommt, halten wir spontan zum Frühstücken.

Ein bei der Straßenmeisterei arbeitender Motorradfahrer kommt langsam von hinten an uns ran und fährt etliche Kilometer mit uns mit, muss zwischendurch alle ca. 3 km die Notrufsäulen testen. Er wird bezahlt aus den Mautgebühren. Nicht nur fragt er uns aus, sondern er gibt uns auch noch Ratschläge. Von ihm erfahren wir, dass es den per Schildern angekündigten Kaiman-Park nicht mehr gibt, weil der einem Drogenboss gehörte. Als er doch irgendwann weiter vorfährt, hält er kurz darauf noch einmal an und fragt, ob er ein Foto machen kann. Wir machen Selfies. Irgendwann viel später ist er auf dem Rückweg, und wir winken uns als alte Bekannte zu.

An der Brücke, die uns von ihm zum Fotomachen empfohlen wurde, machen wir eine Trinkpause. Zwei Lastwagenfahrer halten zum Essen, und wir kommen ins Gespräch, auch über die neue Autobahn nach Medellin. Sie empfehlen die alte Strecke wegen vorhandener Infrastruktur, Orten, Tankstellen, Hotels, Geschäften. Die neue Autobahn hat in dieser Hinsicht noch gar nichts im Angebot. Als sie uns später überholen, hupen sie kurz und der Beifahrer filmt uns mit dem Handy aus dem Seitenfenster und winkt nochmal, ebenfalls, als wären wir alte Bekannte.

Kurz vor Caucasia drehen wir in einem Kreisverkehr ein paar Ehrenrunden, fahren dann über eine Umgehungsstraße und dann noch ein paar hundert Meter in Richtung Zaragoza, bevor wir passend umdrehen und das nagelneue „Hotel Botanica“ (ein Monat in Betrieb) um 12:00 Uhr tatsächlich bei exakt 5.000 km erreichen. Das Tandem kann in die Tiefgarage und wir fühlen uns wie die ersten Bewohner des Zimmers 410.

Der von Viktor vorbestellte Fanfaren-Chor mit dem Geburtstagsständchen wartet wie geplant um 15:00 Uhr am Café Mokka eine Querstraße neben unserem Hotel. Ha, ha, doch nicht, wie angekündigt ein Fanfarenchor! Er hat gestern abend eine personalisierte Torte für zwei Personen bestellt, in einer Pastelleria. Diese sollte zu 15 Uhr in eben dieses Café geliefert werden, und so machen wir dort einen „Geburtstags-Kaffeeklatsch“. Mit vollem Magen nehmen wir aber die zweite Hälfte der Zwei-Mann-Torte immer noch wieder mit zurück.

Wir gehen zum ortsansässigen Busbahnhof – ist nur die Hauptstraße entlang, an der man nicht besonders gut als Fußgänger laufen kann, die Nebenstraßen sind da eigentlich besser – und erkundigen uns nach Möglichkeiten, morgen mit unserem Rad nach Medellin mitgenommen zu werden. Die Chancen stehen ganz gut, es wird aber spontan vom jeweiligen Busfahrer entschieden. Wir können gleich morgens kommen und darauf warten, dass wir im Laufe des Tages Platz finden. Wir beschließen, es zu probieren, und wenn wir bis mittags erfolglos gewartet haben, würden wir hier noch eine weitere Nacht bleiben. Abends im Dunkeln wollen wir nicht in Medellin ankommen – ist immerhin auf der Liste der zehn gefährlichsten Städte der Welt.

Donnerstag 15.8.24 – (081b) – Caucasia – Medellín (Bus)

Mauricio, der die „extra Meile“ mit uns lief, um uns sicher auf einen Radweg in Richtung Stadtzentrum zu eskortieren.

Gesamt: 5006,22 km

Nachdem wir im ebenfalls neuen, zwar noch in der Früh geschlossenen aber zugänglichen kleinen Café am Hotel die restliche Torte gefrühstückt haben, kommt die Bedienung, und wir bekommen auch einen Kaffee. Anschließend packen wir das Tandem und machen uns auf den Weg zum Busterminal. Dort entpacken wir wieder alles und verkleinern wieder einmal das Tandem – inzwischen haben wir richtig Übung darin, und dann wollen wir warten, bis ein ausreichend großer Bus nach Medellín kommt, dessen Fahrer uns auch mitnimmt.

Gestern hatten wir bei zwei Unternehmen angefragt. Ziemlich schnell sieht Jutta durch ein Tor einen großen Bus mit dem richtigen Ziel, allerdings von einer anderen Gesellschaft. Viktor fragt schnell erst eine recht unfreundliche Frau am Schalter, ob dieser Bus auch Fahrräder mitnehmen kann, dann den Busfahrer und schließlich den „Gepäckzuständigen“. Sie sind einverstanden. Sofort wird das Tandem aufrecht quer eingeladen und alle Taschen darum herum. Erst danach geht Viktor – wieder bei der Dame am Schalter – die Tickets für uns kaufen. Der Ticketkauf gestaltet sich schwierig, denn das Computersystem verlangt die Nummer von Personalausweis oder Pass.Die murrige Dame tippt und tippt, aber das System akzeptiert nur Zahlen und keine Buchstaben. Unsere Deutschen Pässe und Ausweise haben aber nun mal auch Buchstaben. Am Ende nehmen wir unsere Mobiltelefonnummern. Blöd nur, dass das nächste Eingabefeld unsere Telefonnummer verlangt. Zum Glück ist das System aber nicht so „schlau“, dass es die doppelt eingegebene Telefonnumer bemerkt.

Ohne etwas für`s Rad zu zahlen, sollen wir dann einsteigen. Um zwanzig nach neun rollt der Bus los. Und wir hatten Sorge, dass wir womöglich Stunden am Terminal stehen müssten! Der Gepäckmensch kommt irgendwann herum, kontrolliert die Tickets und kassiert doch noch die Gebühr für das Rad, die mit 60.000 COP (ca. 15 €) etwas günstiger ist als unsere Tickets mit 70.000 COP pro Kopf.

So sitzen wir stundenlang im klimatisierten, geräumigen Bus und schauen uns die schöne Natur durch die Fenster an. Außerdem registrieren wir die hier wirklich deutlich schlechteren Straßen (der Bus fährt gekonnt um sehr viele Schlaglöcher oder Huckel herum), den fehlenden Seitenstreifen und die wirklich vielen LKW und Busse. Wenn wir hier geradelt wären (und häufig geschoben hätten), wäre das ziemlich gefährlich geworden. Nur vom gefährlich dichten Nebel sehen wir nichts, nur ein paar leichte Schleier.

An einer besonders steilen Stelle kommt ein Auto nicht weiter – es fährt immer wieder an und rollt zurück. Der Bus fährt daran vorbei … haben solche Busse eigentlich Allradantrieb? Für uns wäre das wahrscheinlich eine Strecke, auf der wir das Tandem und das Gepäck getrennt transportieren müssten, weil wir das vollbepackte Tandem selbst zu zweit nicht mehr geschoben bekommen. Gut, dass wir im Bus sitzen!

Um zwanzig vor fünf hält der Bus in Medellín, wir machen das Tandem wieder fahrtüchtig und versuchen uns zu orientieren, wie wir auf die passende Straße zum Hotel California kommen. Der Busbahnhof hat mehrere Etagen, und wir sind ganz oben, die Straße ist aber ganz unten. Ein Security-Mann erklärt uns einen möglichen Weg bis zu einer Stelle, an der wir dann mit gesundem Menschenverstand weiterkommen sollen. Wir schieben durch Menschenmengen, über Brücken, um enge Kurven und stehen dann an der Metrostation oben, wollen aber nach unten. Da spricht uns ein Passant (Mauricio, siehe das Tagesbild-Selfie) an, meint, die Straße, auf der wir fahren wollen, sei zu gefährlich. Komoot nennt sie sogar „Ciclovia“ (Radweg), aber wir erfahren, dass das nur für die Wochenenden gilt, nicht aber an Wochentagen. Eine andere Straße hat aber einen Radweg, und wir werden von Mauricio ein ganzes Stück bis dorthin begleitet. An einer größeren Straße bittet er dann eine Moped-Fahrerin, uns bis zur richtigen Stelle zu führen und verabschiedet sich von uns nachdem wir schnell ein Selfie gechossen haben. Die Moped-Fahrerin macht das tatsächlich und wartet dabei immer wieder an Ampeln und Kreuzungen auf uns! Unfassbar wie besorgt und hilfsbereit hier die Menschen sind, wenn sie orientierungslose Ausländer auf einem Fahrrad sehen. So fahren wir zumindest das erste Stück in Medellin auf einem Radweg!

Als wir später irgendwo abbiegen müssen, werden wir sofort wieder angesprochen, jetzt von einer Radfahrerin. Als sie unser Ziel erfährt, hört sie nicht auf zu betonen, wie gefährlich es dort sei, sehr „caliente“ (heiß = heißes Pflaster?), und das die Strecke dorthin ebenfalls gefährlich sei. Mehrfach fallen die Worte „Drogen“ und „Marihuana“. Auch sie fährt jetzt ein ganzes Stück vor uns her und erklärt am Ende, wie genau wir am besten fahren sollen. Dummerweise dämmert es tatsächlich schon, und im Dunkeln wollen wir eigentlich nicht mehr unterwegs sein. Schließlich ist das hier angeblich eine der zehn gefährlichsten Städte der Welt (gell Nena? 😉 ).

Dunkel wird es aber gerade, als wir endlich vor dem Hotel stehen, in dem wir im April schon aus Santa Barbara ein Zimmer für den 20. August gebucht haben, und an das wir damals ein Paket mit warmen Wintersachen geschickt hatten. Heute haben wir keine Reservierung (wir wussten morgens ja noch nicht sicher, ob es heute schon klappt, und das Reservieren aus dem Bus funktionierte mangels Internetverbindung nicht), aber wir bekommen spontan ein Appartment mit Küchenzeile, Essecke und Sofa zumindest für diese eine Nacht als Upgrade. Sie raten uns, das Tandem mit ins Zimmer im fünften Stock zu nehmen. Der Aufzug ist aber zu klein und über die Treppen wollen wir unser schweres Monstrum dann doch nicht bis in den fünften Stock schleppen. Wir lassen es also in der Tiefgarage.

Aufgrund der Dunkelheit draußen und dem „gefährlichen Viertel“ bestellen wir uns eine Pizza zum Teilen, die sogar bis ins Zimmer geliefert wird.

Nachtrag, dank Kommentar von Michael P.: Die überdachten Wege sind für Milchkühe gedacht und sollen den Milchertrag steigern: https://www.mergili.at/worldimages/picture.php?/16164

Freitag 16.8.24 – Medellín (Ruhetag 1)

Nach einer etwas gewöhnungsbedürftigen Nacht gibt es mal wieder ein inkludiertes Hotelfrühstück, diesmal eher spartanisch mit Rührei, Quesadilla, Kaffee, Orangensaft und Wassermelone. Die Zimmer haben hier alle nur Fenster zum Flur und keine Verdunkelung, so dass das Flurlicht immer wieder das Zimmer erhellt ,wenn jemand auf dem Flur unterwegs ist. Es gibt mehrere Lichtschächte nach oben, und eine Etage über uns läuft sehr laute Musik an der Bar – aber diese hört glücklicherweise irgendwann auf. Die Betten sind für uns sehr ungewohnt bezogen, denn es gibt nur ein Bettlaken. Will man sich zudecken soll man eine unbezogene Wolldecke verwenden. Viktor fragt heute nach dem „richtigen“ Vorgehen, bekommt dann aber für die kommende Nacht eine „Sobre-Sabana“ („Obendrauf-Laken“) angeboten, die offenbar auch andere internationale Gäste häufiger wünschen.

Wir fragen an der Rezeption, ob wir das große Apartment verlassen sollen, was erst einmal verneint wird. Also gehen wir morgens gleich zu „Antony´s“ zum Haareschneiden, anschließend zum „Bike-Shop-Ideal“, wo wir fragen, ob sie dort unser Tandem in Arbeit nehmen können, wenn die Ersatzteile aus Deutschland eingetroffen sind. Das sei kein Problem, sagt der Besitzer. Und gerade heute vormittag finden wir im Tracker der Kolumbianischen Post die Nachricht, dass das Paket, heute, am 16.8., ausgeliefert werden soll. Über den Tag kommen immer wieder neue Zeilen hinzu, was uns auf eine baldige Auslieferung hoffen lässt. Der 16.8. wird es aber am Ende doch nicht.

Weil jetzt erst einmal Wochenende ist und Montag schon wieder ein Feiertag, verabreden wir uns für Dienstag – bis dahin sollte das Paket ja da sein. Montag ist hier „Maria Himmelfahrt“, obwohl schon der 19.8. ist. Es ist hier in Kolumbien so, dass die Feiertage gerne auf den folgenden Montag „verschoben werden“, im Jahr 2025 haben sie hier dafür am 18.8. frei. Schönes Prinzip, so gibt es viele lange Wochenenden.

Dass ausgerechnet heute das Paket ausgeliefert werden soll, kommt uns etwas komisch vor. Erst vorgestern hat eine Dame bei der Post am Telefon gesagt, es sei noch nicht einmal in Kolumbien, in der App zum Tracken erschien bis gestern auch nichts, und gestern hat Viktor schließlich den Zoll kontaktiert und ein wenig auf die Tränendrüse gedrückt. Von dort kam nur eine Bestätigungsmail, dass sie die Nachricht erhalten haben, und heute – einen Tag später – soll ganz zufällig ausgeliefert werden. Mal schauen, ob`s klappt!

Wir bummeln noch weiter durch die Innenstadt, auch auf der Suche nach einer Espressomaschine – alle sogenannten Caféterien haben nur Kaffee aus der Thermoskanne. Im Museum von Antioquia schließlich soll es ein „Kaffeelabor“ geben, mit allen erdenklichen Kaffeespezialitäten in heiß und kalt und auch einer Espressomaschine. Das wird uns auch von Gilberto bestätigt, der uns auf der Straße mit starkem amerikanischen Akzent anspricht. Er ist gebürtiger Medelliner, der aber in Michigan und Chicago aufgewachsen ist. Er wurde mit Anfang 20 von den U.S.A. nach Kolumbien ausgewiesen und ist erst vor 17 Jahren nach Medellín zurückgekehrt, auch aufgrund der vielen Vorurteile gegenüber der Stadt, der schwierigen Lebenssituation und der Sicherheitslage. Er lebt in Bello, einem Vorort von Medellín, und möchte uns gerne dort herumführen. Wir tauschen also Kontakte aus und verabreden uns für morgen Vormittag, auch wenn wir schon vermuten, dass er mit der „Tour“ in Bello ein wenig Geld verdienen möchte. Auf dem Weg zurück kaufen wir uns eine Metrokarte inklusive zehn Fahrten. Im Hotel sagt man uns, dass wir eventuell morgen in ein anderes Zimmer umziehen müssen bzw. können (das wäre weiter unten und nicht mehr so laut mit der Musik von der Dachterrasse).

Nach einer kurzen Pause machen wir uns wieder auf den Weg: wir wollen eine der Seilbahnen nutzen, denn Medellín befindet sich in einem Tal und ist an beiden Seiten die Hänge „hinaufgewachsen“. Die ärmeren Viertel weiter oben an den Hängen wurden aktiv per Seilbahn an den ÖPNV angebunden, um Teilhabe und Entwicklungsmöglichkeiten zu schaffen. Die Stadt ist stolz darauf, die Kriminalität, insbesondere die Kriege zwischen Drogenkartellen und Polizei & Militär, auch durch diese Infrastrukturmaßnahmen reduziert zu haben (allerdings auch durch extrem hartes Durchgreifen, das auch viele Menschenleben forderte). Metro und Seilbahnen sind der Stolz vieler Einwohner und befinden sich in erstaunlich gepflegtem Zustand. Sie werden vom überwiegenden Teil der Bevölkerung als echtes „Gemeinschaftseigentum“ verstanden, mit dem sorgsam umzugehen ist. Wer dazu noch etwas mehr nachlesen möchte, findet hier einiges Interessantes.

Um zu den Seilbahnen zu gelangen fahren wir mit einer „Straßenbahn auf Gummireifen“ zur Metro, und mit dieser dann zur Seilbahn-Station „Acevedo“. Dort stellen wir uns mit sehr vielen anderen Menschen in einer Schlange an, die stetig vorwärtsgeht. Es können immer acht sitzende Personen in eine Gondel, und dann kommen aus einer weiteren Schlange noch ein bis drei stehende Personen dazu. Die Fahrt nach Santo Domingo dauert ca. 10 Minuten und führt über zwei Zwischenstationen.

Dort wollen wir eigentlich noch mit der Linie L nach Arvi weiterfahren, aber diese Fahrt ist für Nichtortsansässige richtig teuer und wir lassen es bleiben. Später erfahren wir, dass dort ein Nationalpark ist, der Grund für den höheren Preis. Stattdessen gucken wir uns in Santo Domingo etwas um, gehen zum Aussichtspunkt mit einem tollen Ausblick über die Stadt und geraten in einen von der Polizei (Policia Nacional) organisierten Rap-Wettbewerb. Ein junger Mann und Teilnehmer spricht uns an und erklärt uns, wie der Wettbewerb abläuft. Er spricht sogar ein paar Brocken Deutsch, und wir wollen eigentlich warten, bis er an der Reihe ist. Als er sich aber nochmal zu Freunden auf den Platz setzt, gehen wir doch weiter. Wir haben seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, vorhin einen vielversprechenden Eisladen gesehen und nutzen lieber die Gelegenheit, das von Iris G. gesponsorte Eis in Form von Banana-Splits zu genießen. Vielen Dank, liebe Iris!

Als wir wieder in der Gondel nach unten sitzen, sehen wir gerade unseren „Freund“ von eben auf der Polizeibühne. Tja, so toll waren die Vorträge eh nicht, vor allem laut! Wir nehmen Euch mal mit zum Aussichtspunkt und an der Rap-Bühne vorbei:

Mit der Metro geht es dann unten im Tal zurück zum Parque Berrio und dann relativ zügig zu Fuß zum Hotel, da es schnell dunkel wird, wenn die Sonne hinter den Bergen verschwindet. Auf einem etwas anderen Rückweg entdecken wir noch das ein oder andere, unter anderem eine Gasse mit Studentenkneipen vor der Universität der schönen Künste („Bellas Artes“), wo wir in den nächsten Tagen wohl noch einmal vorbeischauen können, und Viktor kauft sich in einer Panaderia doch noch eine Empanada und eine Torta, natürlich alles wieder mit viel Fleisch. Auf der Dachterrasse des Hotels werden diese gegessen, weil unser Zimmer gerade gereinigt wird als wir zurückkehren.

Samstag 17.8.24 – Medellín (Ruhetag 2)

Nach dem Frühstück fahren wir mit der Metro nach Bello, um dort von Gilberto durch „seine“ Stadt geführt zu werden. Fast fünf Stunden lang erzählt er uns sehr viel über sein ganzes 52-jähriges Leben.

Er wurde in Kolumbien geboren und ist als kleines Kind mit den Eltern in die U.S.A. ausgewandert, weil die Eltern sich in Kolumbien bedroht fühlten und um ihr Leben bangten. Während seine Eltern als Erwachsene eine unbegrenzte Aufenthaltserlaubnis für die U.S.A. erhielten, und seine in den U.S.A. geborenen Geschwister automatisch amerikanische Staatsbürger wurden, hätte seine Aufenthaltserlaubnis nach sieben Jahren von den Eltern erneuert werden müssen. Weil sie das nicht wussten, wurde Gilberto mit Anfang 20, vermutlich bei seiner Volljährigkeit, zunächst für 13 Monate in Atlanta im 17. Stock eines Immigrations-Gebäudes kaserniert und schließlich nach Kolumbien ausgewiesen. Gilberto ist überzeugt, dass Gott ihn danach aus einer tiefen Depression und dem Alkoholismus gerettet hat. Auf fast jedem Bild, dass wir mit ihm machen, zeigt sein Finger nach oben. Zur Zeit versucht er, auf legalem Weg wieder in die U.S.A. zu kommen.

Von Gilberto erfahren wir, dass die Hilfbereitschaft, die wir bei unserer Ankunft in Medellín erfahren haben, ganz typisch für die „Paisa“ sein soll. So werden die Einwohner des Departamento Antioquia genannt. Sie werden als besonders warmherzig und hilfsbereit bezeichnet. Wir erfahren auch, dass wir aus Cartagena kommend durch die Region der „Costeños“ gefahren sind. Die Bewohner der Region um Bogota werden „Rollos“ genannt und gelten angeblich als eher direkt, unfreundlich und korrupt (da waren sie wieder, die Hauptstädter 😉 )

Gilberto hat jahrelang für Stromversorgungsunternehmen gearbeitet. Er erzählt uns von Stromklau in großem Umfang (Stromleitungen in den Straßen werden unter Umgehung der Stromzähler angezapft) und kann uns außerdem erklären, dass die zylindrischen Bauteile oben an den Masten nicht etwa Kondensatoren sind, wie wir in Panama angenommen hatten, sondern tatsächlich Transformatoren. Denn hier werden tatsächlich Hochvolt-Stromleitungen bis in die Nähe der Häuser verlegt und die Spannung dann erst auf 120 Volt heruntertransformiert. Soweit uns bekannt, wäre das in Europa aus Sicherheitsgründen undenkbar.

Keine Kondensatoren sondern Transformatoren

Gilberto weist uns auch noch auf eine „sin street“ (Sündenstraße) in Bello hin, wo sich des abends Homosexuelle, Transvestiten und andere, nach seiner Meinung „verlorene Seelen“ treffen. Wir ersparen beiden Seiten eine kontroverse Diskussion zu diesem Thema.

Gegen Ende der Tour zeigt er uns noch das „Juwel“ von Bello, eine ehemalige Textilfabrik, die zu einer Shopping Mall umgebaut wurde, in der es aber viel Platz für die Öffentlichkeit gibt, der auch sehr gut angenommen wurde. Auf dem Dach gibt es einen großen, am Rand begrünten Platz (Parque de las Estrellas), der abends von Familien genutzt wird und ganz oben sogar Fussball-„Käfige“, in denen gerade Jugendmannschaften ein Turnier spielen, als wir uns alles anschauen.

Für ein typisches Paisa-Mittagessen bringt uns Gilberto in das Restaurant „Casa Vieja“, das einem guten Freund gehört (Juan Carlos). Wir erhalten unser Mittagessen sehr preisgünstig, denn wir verspeisen zu dritt zwei große „Paisa-Teller“ (Jutta nimmt Reis und Bohnen des einen, die zwei Männer essen den Rest), zahlen aber nur einen und erhalten die Getränke gratis. Juan Carlos bietet uns an, uns morgen in sein Heimatdorf in die Berge zu fahren, wo es einen wunderschönen Wasserfall gibt. Wir lehnen dankend ab, denn wir müssen an unsere Fahrradreparatur denken und wollen selbst die Mäntel wechseln und die Schaltung reparieren. Wir tauschen aber Telefonnummern aus, falls wir es uns doch noch anders überlegen sollten. So eine gewisse Grundvorsicht wollen wir uns dann aber doch noch bewahren und nicht gleich in jedes Auto einsteigen, das uns mit großer Hilfsbereitschaft angeboten wird. Zum Abschied lässt Gilberto auf Nachfrage von Viktor („Wenn wir noch irgendwas für Dich tun können …“) dann doch die Katze aus dem Sack und bittet um eine kleines Zeichen der Anerkennung, was auch immer es uns wert sei. Also erhält er von uns schnell noch eine kleine Spende, bevor wir durch die Drehkreuze zur Metro eilen, denn wir sind verdammt spät dran.

Ab 14 Uhr sind wir für eine geführte Tour in die Kommune 13 angemeldet. Statt um zehn vor zwei kommen wir mit der Metro erst – untypisch Deutsch – um zehn nach zwei am Treffpunkt an. Alle anderen warten schon. Von den zehn Teilnehmenden sind acht Deutsche, die natürlich alle pünktlich waren. Von drei jungen Menschen wurde eine in Wilhelmshaven geboren – ihre Mutter war dort als Schauspielerin tätig – sie sind bald wieder weggezogen.

Die Comuna 13 hat eine lange und gewaltvolle Geschichte hinter sich. Regierung (Polizei und Militär), Guerillas, sogenannte „Mercenarios“ (Söldner) und Banden lieferten sich von 2001 bis 2003 brutale Kämpfe bis es zur berüchtigten „Operacion Orion“ kam, die viele Menschenleben kostete, aber die Situation auch „befriedete“. Die offizielle Opferzahl der Operation wurde von der Regierung mit 100 bis 200 angegeben, die Einwohner selbst sprechen von Tausenden bis heute Verschwundenen. In einem Steinbruch auf der anderen Seite des Tales werden heute noch menschliche Knochen gefunden, eine offizielle Aufklärung hat es nie gegeben (Artikel).

Heute hat sich die Comuna 13 schon fast in eine Art Vergnügungspark verwandelt und wird von Touristen regelrecht überschwemmt, speziell seitdem ein System langer Rolltreppen gebaut wurde, die uns den Hügel hinaufbringen. Die Rolltreppen sind aber auch für die Bevölkerung eine große Hilfe beim Transport aller möglichen Güter (selbst Waschmaschinen) zu ihren Häusern am Hang.

Auch wir sind heute Teil dieser Touristenschwemme und haben dabei gemischte Gefühle. Einerseits bringen Touristen Einnahmen in das Viertel und schaffen somit eine Alternative zu illegalen Geschäften und kriminellem Lebensunterhalt, andererseit bringt der Tourismus ganz neue Probleme mit sich. Es ist extrem laut wie auf einem Rummelplatz in Deutschland, aus allen Richtungen prasselt die unterschiedlichste Musik auf uns ein, es riecht nach Joints, Empanadas und Urin.

Rap und Breakdance sind ein wichtige Einnahmequelle für die jüngere Generation in der Comuna 13 geworden:

Zum Abendessen gehen wir in einen Rooftop-Burgerladen und bestellen zwei Veggie-Burger (Viktor hatte für heute tatsächlich genug Fleisch). Beim ersten Versuch kommen zwei fleischhaltige, die an einen anderen Tisch gehören. Nachdem Viktor schon eine Pommes genommen hat, bemerken wir es und geben Bescheid. Ein paar Minuten später erhalten wir dann auch die richtigen Burger.

Unser Paket mit den Ersatzteilen aus Deutschland ist auch heute nicht ausgeliefert worden. Wegen des zusätzlichen Feiertages am Montag ist die nächste Chance jetzt leider erst am Dienstag.

Sonntag 18.8.24 – Medellín (Ruhetag 3)

Sonntags bietet das Hotel ein „besonderes“ Frühstück: Hühnerbrühe plus Papaya mit Cerealien überstreut. Jutta isst dann lieber noch von unserem Toastbrot-Vorrat … .

Nachdem der gestrige Tag im Blog aufgearbeitet ist, machen wir uns auf den Weg: sonntags sollen hier ja Straßen für Autos gesperrt sein, und eine der Sperrungen startet angeblich nicht weit vom Hotel. Wir wollen uns das zu Fuß anschauen gehen. Der Beginn ist dann doch wesentlich weiter entfernt, deshalb gehen wir in Poblado, dem Gegenteil der Kommune 13 mit angeblich den höchsten Monatsmieten Lateinamerikas, in einer Shopping-Mall Kaffee trinken … natürlich bei Starbucks. Die Mall ist gerade Schauplatz einer recht großen Bonsai-Ausstellung.

Wir laufen weiter und finden den Start der Straßensperrung. Eine junge Frau unter einem Pavillon erklärt uns, bis wohin sie reicht, und dass morgen noch einmal gesperrt wird, weil ja Feiertag ist. Vielleicht kommen wir morgen früh mit dem Tandem wieder. Am selben Ort ist schon wieder eine Mall, wir gehen kurz hinein (Toilettenbesuch) und finden ein Orthopädie-Geschäft. Da Juttas Halswirbelsäule immer noch muckt, kaufen wir dort kurzerhand eine Halskrause.

Das MAMMedellin (Museum der Modernen Kunst) ist nicht weit entfernt und hat bessere Bewertungen als das Pablo-Escobar-Museum, dehalb gehen wir dorthin. Wir müssen als Einzige unsere Tasche am Eingang abgeben und fühlen uns etwas diskriminiert. Viele von den Ausstellungen sind Audio-Installationen, manchmal hört man mehrere gleichzeitig. Ein Film macht z.B. das Sprichwort „Unter den Teppich kehren“ sichtbar. Einige wenige Bilder gibt es ebenfalls.

Anschließend wollen wir etwas trinken gehen, suchen ein wenig und landen dann in einem „Crepes & Waffles“. Als wir dort zahlen, erhalten wir auf dem Bon einen „2 für 1-Gutschein“ für das MAM. Da haben wir leider heute einmal die falsche Reihenfolge gewählt. Aber wir können ja auch nicht immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein.

Auf dem Weg zur nächsten Metro-Station – denn zurück werden wir nicht mehr laufen – fragen wir in einem Home-Center noch nach Ultraschall-Pfeifen für Hunde, da gerade heute in der Südamerika-WhatsApp-Gruppe sehr viel über die nervigen Hunde – besonders in Peru – geschrieben wird und was man dagegen tun kann. Sie haben keine, und bestellen klappt leider auch nicht schnell genug. Vielleicht finden wir noch einen anderen Laden, wir bleiben ja notgedrungen noch ein paar Tage hier.

Da wir erst kurz im Hotel vorbeigehen, bevor wir uns zum Essen und Getränkekaufen aufmachen, ist es ein paar Minuten nach sechs, als wir am Supermarkt ankommen, und es dürfen nur noch Menschen hinausgehen. Dumm gelaufen, heute ist ja Sonntag!

Woche 19 (5.8.24 – 11.8.24) – San Blas Inseln – Lorica

Montag 5.8.24 – Hohe See

Um halb fünf hört Jutta, wie der Anker eingeholt und der Motor gestartet wird, also nichts mit „zwischen zwölf und zwei“. Jetzt ist sie wach, und nur eine halbe Stunde später beginnt sie trotz der schon prophylaktischen Einnahme von Reisetabletten zu spucken. Die vordere Luxus-Koje stellt sich plötzlich als Nachteil heraus, denn die hebt und senkt sich mit dem Bug des Schiffes am heftigsten von allen Kojen.

Als es hell wird, geht Jutta nach draußen, wo es etwas besser wird, aber wir kommen in zwei Gewitter-Stürme mit viel Regen, während derer sie nach unten in den Salon muss und – zwischen den dort auf ihren Kojen liegenden anderen Passagieren – seekrank am Boden liegt, denn ganz unten im Bug ist es laut Crew am erträglichsten. Viktor schläft während dieser ganzen Zeit und bekommt das Ganze nicht mit. Die meisten bleiben mehr oder weniger den ganzen Tag auf ihren Betten (André sagt, es wären wirklich alle seekrank), nur Jutta und zwei andere sind die meiste Zeit an Deck. Einer der Spuckbeutel (Jutta ist nicht schnell genug, sich über die Reling zu hängen und spuckt meist in Beutel) ist undicht, da muss dann der Kissenbezug der riesigen Liegekissen an Deck gewechselt und alles aufgewischt werden – unangenehm, aber nicht zu ändern. Im Magen ist von Beginn an nichts, was herauskommen könnte, aber alles Wasser, was sie auch nur trinkt, findet den Weg wieder nach draußen. Der Tag zieht sich so hin, um sechs geht Jutta in die Koje, um sich auf die lange Nacht auf See vorzubereiten, und ab sieben, nach einem letzten Aufbäumen des Magens, ist plötzlich alles ruhig.

Dienstag 6.8.24 – Hohe See – Ankunft in Cartagena

Als Jutta morgens „gesund“ aufsteht und nach oben geht, kann man schon die Skyline von Cartagena sehen – das Land ist nicht mehr weit. Es gibt Müsli/Cornflakes zum Frühstück, dann packen alle ihre Dinge zusammen, und schon um vor zehn ankern wir vor dem Hafen in Cartagena. Uns wurde gesagt, dass es dort einen richtigen Hafen gäbe und das Aussteigen mit dem Tandem sicher leichter wäre, aber jetzt erfahren wir, dass alle, inklusive Tandem, mit dem Dingi an Land gefahren werden. Aber zunächst fährt André an Land, um unser aller Einreise zu klären. Nach 45 Minuten kommt er ohne die Pässe zurück … . Die bräuchten noch etwas. Irgendwann kann er sie gestempelt abholen fahren und unser finaler Landgang kann beginnen. Nach allen anderen wird erst Jutta mit unserem Gepäck an Land gefahren, dann Viktor und das Tandem. Bis zur letzten Sekunde kann Viktor eigentlich nicht glauben, dass das Herunterreichen des Tandems in das Beiboot funktionieren kann. Vor seinem geistigen Auge sieht er das Tandem schon am Grund des Hafens liegen. Aber es klappt tadellos, wie schon so viele Male vorher, laut André auch mit 75 kg schweren Motorrädern. Das Tandem ist nun wirklich keine Herausforderung für ihn, das ist ja sogar leichter als der Außenbordmotor des Beibootes.

Am Steg verabschieden wir uns von André und der Volunteerin Roberta und machen noch ein Foto von ihnen auf dem Rückweg zur Sophia.

Im Schatten unter einem Baum packen wir das Rad aus und machen es wieder fahrtüchtig.

Dann fahren wir zum ersten Mal nach der Reparatur in Panama Stadt eine kurze Strecke mit dem voll bepackten Tandem. Es fährt sich zunächst sehr „schwammig“, fast so als hätte es einen Platten. Das liegt hoffentlich nur an den 40 PSI (2,5 bar) Reifendruck und nicht an der geringeren Speichenspannung. Die macht Viktor derzeit eigentlich die meisten Sorgen, denn alle Empfehlungen in verschiedenen Foren und in der „Pino Owners Facebook-Gruppe“ sprechen sich für eine hohe Speichenspannung bei montierten und aufgepumpten Reifen aus. Die Vermutungen über die Ursache der Felgenbrüche gehen derzeit dahin, dass die Lastenradreifen (Schwalbe Pick-Up) auch seitlich eine hohe Wandstärke der Karkasse haben und damit die Felge sprengen. Jedenfalls haben andere schon ähnliche Erfahrungen gemacht und sind ebenfalls ratlos.

Per Facebook kontaktiert Viktor die Firma Schwalbe, erhält aber als Antwort zunächst nur die üblichen Links zu den Standardinformationen. Mal schauen, ob in den nächsten Tagen eventuell noch mehr erreichbar ist.

Wir checken mittags im Holiday Inn Express im Stadtteil Manga ein, ganz in der Nähe der Marina. Das Tandem kommt in die zweite Etage ins Parkhaus. Wir nutzen als erstes recht ausgiebig die Dusche und waschen das ganze Salz ab, geben danach die ebenfalls salzige Dreckwäsche in die Hotelwäscherei. Nach kurzer Pause laufen wir zu einem Einkaufszentrum mit einem Baumarkt, da unsere in Panama gekauften Spanngurte leider wesentlich dünner und weicher sind als die vorherigen deutschen von Hase und sich nach dem einmaligen Gebrauch auf dem Schiff schon beginnen aufzulösen. Im Homecenter wird uns zwar gesagt, sie hätten wohl keine, wir finden aber noch genau eine Packung. Die Gurte scheinen genauso dünn zu sein, sind aber immerhin nur zwei Meter lang, und wir nehmen sie mit. Das Bezahlen zieht sich etwas hin – hier scheinen die Kassierer jede Menge Informationen von den Kaufwilligen zu benötigen, es geht sehr langsam voran. Wir werden gefragt, ob wir Punkte sammeln und müssen eine E-Mail-Adresse angeben. Am Ausgang steht dann noch Security und gleicht den Bon mit den herausgetragenen Dingen ab. Eine Mail von dort kommt in den nächsten 24 Stunden zumindest nicht … . Beim folgenden Getränkekauf im Supermarkt läuft die Bezahlung ebenso ab, das scheint hier Standard zu sein – eilig darf man es da nicht haben!

Zurück im Hotel beginnen wir mit der Nachbearbeitung der letzten Tage im Blog, gehen zwischendurch im zehnten Stock im Hotelrestaurant essen und schreiben dann weiter bis zum Schlafengehen. Komischerweise kann Jutta schlecht einschlafen – ob es daran liegt, dass es nicht mehr schaukelt?

Mittwoch 7.8.24 – Cartagena de Indias

Wir sind für zehn Uhr bei einer „Free Walking Tour“ in der Altstadt von Cartagena angemeldet, haben also reichlich Zeit, gemütlich aufzustehen und zu frühstücken. Viktor schreibt noch ein bisschen, Jutta entdeckt währenddessen ein „Wolkenkuckucksheim“ …

… das Haus steht eigentlich auf einem Hügel, den wir durch das zweite Fenster um die Ecke sehen. Durch die Spiegelung wirkt es aber so, als stünde es in den Wolken über dem Meer.

Das Hotel ruft uns ein „sichereres“ Taxi als die, die wir selber an der Straße anhalten würden, und wir lassen uns zum Proklamationsplatz fahren, wo schon eine große Menschenmenge steht und von einem angeblichen Rapper bedrängt wird, der Spenden sammelt. Überall sind fliegende Händler, die Hüte, Schmuck, Sonnenbrillen, Wasser und vieles mehr anbieten, um nicht zu sagen „aufdrängen“.

Die Menschenmenge aus Touristen, die sich für eine Tour angemeldet haben, wird in zwei Gruppen aufgeteilt – erst werden viele Namen aufgerufen, die mit dem spanischsprachigen Führer mitgehen werden, alle anderen werden ebenfalls auf Spanisch zugetextet, nur der letzte Satz („Please follow me“) erklärt verständlich, dass es für die englische Tour wohl woanders losgeht. Jutta kommt mit einem Engländer ins Gespräch, der eine Weile mit Susy, die mit uns auf der Sophia war, gereist ist, nachdem die beiden sich in El Salvador getroffen hatten. Und als wir am Ausgangspunkt „unserer“ Tour ankommen, steht dort eine weitere Gruppe (einer anderen Tour), in der wir Susy gemeinsam entdecken. Die Welt der Reisenden ist irgendwie klein.

Unsere „Free Walking Tour“ führt durch den alten Teil Cartagenas innerhalb der ehemaligen Stadtmauer, die zu einem überraschend großen Teil noch erhalten und begehbar ist. Unser Guide „Ronaldo“ ist ein echter Profi, versorgt uns mit vielen historischen Details und macht das dabei aber mit einer guten Portion Humor und immer passend zu dem Platz, an dem wir gerade stehen. So erfahren wir einiges über die Proklamation der Unabhängigkeit von Spanien (denn wir starten ja am Proklamationsplatz), die spanische Kolonialzeit, den Sklavenhandel, den Bau der Stadtmauer zur Verteidigung gegen die „Piraten“ (so wurden alle Feinde der spanischen Kolonialherren genannt, also auch die Franzosen und die Briten), den großen Angriff von Sir Francis Drake (1586), die Verteidigung Cartagenas (1741) durch den „halben Mann“ Blas de Lezo, die Palenqueras und deren Geschichte, die Zeit der Inquisition, die Größe der Balkone an den Häusern (je größer, desto reicher der Besitzer), die „Miss Columbia“ und „Miss Universum“ – Wahlen und über das teuerste Airbnb in Cartagena, das Sir Francis Drake House.

„Free“ ist die Tour natürlich nicht. Sie basiert auf dem Prinzip der freiwilligen Spende (PWYW – pay what you want), für das einige Studien nachgewiesen haben, dass am Ende sogar mehr Einnahmen erzielt werden, als bei einer festen Preisangabe. Ronaldo ist perfekt darin, in seinen Vortrag immer wieder einzuflechten, dass er am Ende an den durchschnittlichen Einnahmen der geführten Gruppe gemessen wird. Mehrere Fotos mit allen Teilnehmern werden aufgenommen, damit später exakt nachgerechnet werden kann. Irgendwann erwähnt er natürlich auch ganz nebenbei einen empfohlenen Durchschnittsbetrag. Er macht seinen Job wirklich gut und versteht es, einen gewissen sozialen Druck aufzubauen, ohne dabei unangenehm zu werden.

Cartagena de Indias wurde natürlich nach der spanischen Stadt Cartagena benannt, vermutlich weil die Hafenbuchten sich sehr ähneln. Die Stadtmauer und viele Gebäude in Cartagena wurden aus Korallengestein erbaut, was an vielen Stellen noch sehr gut zu erkennen ist.

Irgendwann während der Tour reißt der bedeckte Himmel auf und die Sonne brennt erbarmungslos. Viktor bleibt da leider nichts anderes übrig als ein Souvenir zu erstehen, denn seine Stirn soll definitiv nicht solche Blasen schlagen, wie es sein Rücken gerade tut. Am Stand eines Straßenhändlers fragt er nach dem Preis einer Baseball-Kappe. „40.000“ … er wendet sich ab … „für Dich 35.000“ … „krieg ich sie auch für 20.000?“ … „30.000“ …“krieg ich sie für 25.000″ … „30.000“ … Viktor wendet sich ab und geht wieder zur Gruppe … und bekommt die Kappe dann für 25.000. Gruß an meinen Vater im Jenseits … das hab ich von ihm. 🙂

Nach der Tour gibt es einen Kaffee im – laut Ronaldo – besten Kaffehaus Cartagenas, dann erwandern wir uns noch ein wenig die Stadtmauer und den Stadtteil Getsemani.

Am Ende des Tages entscheiden wir uns, noch einen Tag in Cartagena dranzuhängen, denn wir müssen morgen das Tandem entsalzen, alle Radtaschen neu packen (für die Überfahrt hatten wir alles umgepackt), Luft auffüllen, die Lenkerstellung nochmal korrigieren und vielleicht bleibt auch noch Zeit für einen halben Sightseeing-Tag. Ach ist das schön, so ganz ohne Zeitdruck!

Donnerstag 8.8.24 – Cartagena de Indias

Noch vor dem Frühstück füllen wir ein ellenlanges Online-Formular von DHL aus, da unser Deutschland-Paket noch in Leipzig hängt und nicht weitergeschickt wird ohne alle möglichen Angaben unsererseits. Wir frühstücken bei Sonnenschein am Fenster mit Blick auf den Containerhafen.

Anschließend gehen wir den Lenker des Tandems richtig einstellen und den Reifendruck auf 3 bar erhöhen. Bevor wir die neuen Bremsbeläge einbremsen fahren (d.h. ca. 15 Mal pro Bremse auf 25 km/h beschleunigen und bis kurz vor dem Stand bremsen) wollen wir an einem Autowaschplatz das Meersalz vom Tandem abwaschen. Als wir noch nach einer Möglichkeit dafür suchen, sieht Jutta Seifenwasser die Parkhausrampe herunterlaufen: die Reinigungskräfte erlauben uns, dort auf der Rampe das Rad abzuspritzen. Viktor macht das Einbremsen dann alleine und fährt dafür ein paar Mal um den Block, da es eine längere, gerade Strecke mit gutem Straßenbelag eh nicht in der Nähe gibt.

Wieder im Zimmer packen wir die Radtaschen so um, dass sie für unser Vorankommen richtig gepackt sind, kürzen die sehr langen Spanngurte aus Panama (sie bekommen noch eine Chance) und wollen dann noch eben eine Unterkunft für morgen buchen. Dieses gestaltet sich wesentlich schwieriger als erwartet: Komoot hat ein Hotel gefunden, von dem man aber keinerlei Kontaktdaten online finden kann. Wir suchen eine Alternative – nur andernorts, aber okay. Es geht niemand ans Telefon, aber nach einer WhatsApp-Anfrage bekommen wir eine Bestätigung. Mal schauen, ob wir morgen das von Komoot vorgeschlagene Hotel im Vorbeifahren sehen werden … . Wenn wir überhaupt heile dorthin kommen – ein wenig Bedenken haben wir jetzt doch mit den neuen Felgen.

Den restlichen Tag können wir noch zu weiterem Sightseeing nutzen. Dafür kaufen wir uns ein Ticket für den Hop on – Hop off – Bus und fahren damit mehr als eine Runde, nicht, weil es so toll ist, aber damit wir wieder in der Altstadt sind. Immerhin sehen wir so noch ein paar andere Ecken der Stadt und finden in der Hotelzone endlich einen roten Geldautomaten, wie er von Kapitän Andrés empfohlen wurde, weil diese die geringsten Gebühren nehmen. Und tatsächlich werden wir innerhalb weniger Minuten zu Millionären – wir halten 1,2 Millionen Kolumbianische Pesos in den Händen – 300 Euro. Das sollte für einige Zeit reichen, denn in den meisten Fällen zahlen wir mit Kreditkarte. Aber unser morgiges Hotel nimmt z.B. nur Bargeld.

In der Altstadt wollen wir im (sehr touristischen) Café del Mar an der Stadtmauer den Sonnenuntergang bei einem von Antje gesponsorten Cocktail genießen. Vielen Dank, liebe Antje, für das Willkommenheißen in Cartagena, und wir entscheiden uns diesmal gegen ein Eis und für einen (alkoholfreien) Cocktail – „Pink Sunset“ – passend zu Ort und Zeit!

Das Café ist schon um 16:30 Uhr rappelvoll, mit langer Wartschlange und Mindestverzehr an den Tischen. Direkt an der Mauer Richtung Sonnenuntergang unter der Kolumbianischen Flagge ist es am teuersten (100.000 COP = ca. 25€), wir nehmen einen der Tische an dem schon zwei Cocktails ausreichen, um das Bleiberecht zu erhalten. Diese sind allerdings so teuer, dass man mit dreien auch schon über 100.000 COP liegen würde.

Danke Antje!

Nach dem Besuch einer „Farmatodo“-Apotheke zur Blutdruckmessung und Kalibrierung von Viktors Smartwatch sowie zum Getränkekauf für das erste Mal Radfahren nach genau drei Wochen Pedal-Abstinenz lassen wir uns von einem Taxi zum Hotel zurückfahren. Mittlerweile sind wir Taxi-Profis und nennen dem Taxifahrer den Preis, den wir bereit sind für die Strecke zu zahlen (10.000 COP ist die Mindestsumme). Er akzeptiert. Im Hotel essen wir im zehnten Stock, packen noch ein wenig um, schreiben dann diesen Blog fertig und beenden den Tag eher zeitig. Der Andrenalinspiegel ist mal wieder deutlich erhöht (wie auch Viktors Blutdruck schon am Nachmittag). Die ersten 20 Kilometer werden vermutlich zeigen müssen, ob das ganze System wieder funktioniert und die Speichen und Felgen auch halten.

Wie schreibt es ein Hase Pino-Besitzer auf Facebook so schön:

Es ist etwas „unsettling“ = „beunruhigend“.

Freitag 9.8.24 – (076) – Cartagena de Indias – Maria la Baja

Gesamt: 4.690,53 km

Als Jutta um 4 Uhr früh aufwacht, kann sie ihr rechtes Knie nicht beugen – das Bein ist steif und schmerzt stark. Der Kopf beginnt zu arbeiten: wir wollen doch heute endlich wieder fahren! – müssen wir jetzt abbrechen? Lauter so Zeugs! Viktor wacht auf und hilft, und sobald Jutta auf der Bettkante sitzt und das Bein in Richtung Boden zwingt, ist plötzlich alles wieder gut. Puh! Auch als der Wecker um fünf klingelt, merkt sie nichts mehr davon.

Wir bepacken unser Tandem und gehen um sechs Uhr noch schnell frühstücken, danach geht es in den Berufsverkehr einer Großstadt. Das haben wir mit Sicherheit nicht vermisst: zwischen Autos, Bussen und vielen, vielen Motos kommen wir streckenweise kaum vorwärts und brauchen für die ersten 12/13 km (alles noch Cartagena) eineinhalb Stunden

eine kurze Verschnaufpause

Kaum ist die Stadt vorbei, geht es erst einmal einige Kilometer bergauf. Da kommt nach 25 km eine Tankstelle mit „Altoque“ (dieser Name hat den Namen „Va&Ven“ aus Panama hier in Kolumbien an den Terpel-Tankstellen-Läden abgelöst) gerade recht, und wir machen eine erste Abkühl- und Getränkepause von knapp einer Stunde (in der unter anderem DHL noch weitere Informationen von uns haben will … „Welche Sachen in dem Paket stammen ursprünglich nicht aus Deutschland?“). Die nächsten 25 km vergehen wie im Flug, die Straße ist relativ gut, nicht überfüllt, die Natur rechts und links ist richtig schön. Es geht erst durch Rinderhaltungsgebiete (wieder verstärkt mit Reitern auf ihren Pferden), dann durch ein großes Feuchtgebiet, gegen Ende dann wieder durch Palmöl-Plantagen. An einer Stelle im Feuchtgebiet sitzen und fliegen sehr viele Fischreiher:

Aber Viktor droht heute wieder einmal zu überhitzen. An einer Tankstelle mit Hotel und Restaurant fragt er nach einer Klimaanlage. Ja, in den Hotelzimmern wären welche. Gibt es in der Nähe einen anderen Ort mit Klimaanlage? Sie verneinen lachend, machen aber einen großen Standventilator direkt vor „unserem“ Tisch an. Viktor überlegt, „Pollo sudado“- „Verschwitztes Huhn“ zu bestellen, laut Nachfrage Huhn mit Gemüse, aber die Portion ist immer für zwei Personen, und Jutta möchte nicht.

Nach einer Stunde Pause ist es gerade zwölf Uhr, absolute Mittagshitze, als wir wieder losfahren. Wobei wir nicht weit kommen! Zwei Kilometer weiter ist eine Kreuzung, an der wir scharf rechts abbiegen müssen. Und 500 Meter vor diesem Abzweig geht gar nichts mehr! Nein, unser Tandem ist nicht schuld! Es stehen quasi drei Reihen LKW nebeneinander auf der gesamten Straße und bewegen sich nicht. Motorräder und einige Autos fahren auf dem rechten Grünstreifen vorbei, aber das geht für uns nicht. Wir schieben mehr schlecht als recht vorbei und durch und sind irgendwann an der Kreuzung. Viktor will die Situation noch schnell fotografiert haben, aber sobald Jutta mit dem Handy zur Seite tritt, wird er von mehreren Männern umringt und zum Tandem befragt.

Ab dort ist die Straße lange Zeit sehr leer – es kommt ja kein Fahrzeug von der Kreuzung hinter uns durch – aber die Temperatur ist so hoch, dass Viktor arg gegen Überhitzung kämpfen muss. Immer wieder eine nasses Tuch auf den Kopf und sehr viel Flüssigkeit! Um nach Maria la Baja zu kommen, schlägt Komoot die letzten knapp zehn Kilometer an einem Kanal vor, was auch eine Abkürzung von ein paar wenigen Kilometern bedeutet. Jutta guckt lieber zu Fuss, was für einen Belag dieser Weg hat, auch wenn Komoot von „Straßenbelag“ spricht. Und leider ist es ein steiniger Sandweg. Wir sind uns einig, dass sich das für so wenig gesparte Strecke nicht lohnen wird. Also weiter auf der Hauptstraße!

Unser Garmin hat nun keine Angaben mehr – Jutta muss bei jeder Frage „Wie weit noch?“ schätzen – und schon im Ort muss Viktor doch noch einmal Pause machen, obwohl es nur noch 500 Meter bis zum Hotel sind (was Google jetzt ausspuckt). Wir schieben mehr als wir fahren über nicht so tolle Wege, sind irgendwann zu weit, und dann geht Jutta zu Fuß mit Handy in der Hand zum laut Google richtigen Ort, der sogar mit dem Komoot-Ort übereinstimmt. Dort ist ein großes, mehrstöckiges, eingezäuntes Gebäude. Sie „holt“ also Viktor und das Rad auch dorthin. Dummerweise ist es nicht das Hotel! Dieses liegt aber nur wenige Meter weiter gegenüber. Für umgerechnet 20 Euro bekommen wir ein Zimmer.

Wir machen uns Gedanken, wie wir an Getränke für morgen kommen. In den Tiendas in der Nähe gibt es entweder gar keine Getränke oder so 200ml Saft-Tetrapacks. Jutta findet an der Hauptstraße noch eine, wo sie immerhin zwei Flaschen „Elektrolit“ bekommt, die Lateinamerikanische Variante von Gatorade in tollen Geschmacksrichtungen wie Kokos, Kiwi-Erdbeere und Maracuja. Und was ist eigentlich mit dem Frühstück morgen – die nächste Möglichkeit scheint es erst in 40 Kilometern zu geben? Wahrscheinlich werden wir nicht um fünf oder sechs losfahren können, wie heute überlegt, sondern müssen warten, bis hier im Ort noch eine Frühstücks-Möglichkeit öffnet, obwohl wir ja ganz gerne erst etwas fahren, bevor wir frühstücken, um die „kühlere“ Zeit am Morgen zu nutzen.

Leider ist das Rooftop-Restaurant, das es im Hotel geben soll, nicht in Betrieb, und von allen anderen Essensanbietern im Ort bietet heute genau einer Essen an, hat aber auch nicht alles (wenige) von der Karte, z.B. keine Burger. Immerhin bestellt der Hotelmitarbeiter abends für uns und macht sogar Überstunden, weil der Lieferant noch nicht da ist, als er eigentlich Feierabend hat.

Die Lieferung von „Fast Food 39“ zieht sich stundenlang hin. Von Fast Food kann wirklich keine Rede sein. Das Wechselgeld gibt es erst am nächsten Morgen, aber es ist tatsächlich da. Die „Arepas con todo“ stellen sich als eine Teigtasche mit etwas Salat und viel Huhn, Rind, Schwein und Chorizo heraus. Die „Choripapas“ sind Pommes mit Chorizo, zugedeckt mit Salat. Nach dem Herauspicken des Chorizo bleibt für Jutta nicht mehr wirklich viel Genießbares übrig. Die Teigtasche der Arepas ist mir irgendeiner Sauce getränkt, die Jutta auch nicht so toll findet. „Allesfresser“ Viktor wird heute Abend jedenfalls gut satt.

Samstag 10.8.24 – (077) – Maria la Baja – Santiago de Tolú

Gesamt: 4.766,18 km

Das war aber auch wirklich mal wieder nötig! Ein nahezu perfekter Radfahrtag mit ausreichend Erholungszeit am Zielort, um ihn auch noch ein wenig kennen zu lernen. Und ein kleiner Pool im Hotel. 🙂

Wir starten um kurz vor sechs direkt neben dem in voller Lautstärke laufenden Notstromaggregat des Hotels. Heute Nacht gab es ein längeres Gewitter und das Stromnetz fiel aus, genau zu dem Zeitpunkt als Jutta ins Bad wollte. Die Klimaanlage fiel aus und es blieb alles dunkel. Zum Glück hat die Huawei-Smartwatch eine Taschenlampenfunktion, die Viktor auch bedienen kann. Nach wenigen Minuten gab es ein lautes Rattern und der Strom war wieder da, aber das zugehörige Rattern blieb für den Rest der Nacht.

Obwohl es gestern hieß, die Tiendas machen wohl erst um sieben auf, finden wir an der Hauptstraße eine, deren Licht schon an ist und fragen erfolgreich, ob wir schon etwas bekommen können. Wir kaufen (neben Wasser) zwei verpackte „Pan de Uva“ (Trauben-Brot), in dem Irrglauben da wären Rosinen drin. Tatsächlich ist das einfach süßes Brot mit Aromastoffen (wir entdecken später Vanillearoma, aber kein Trauben- oder Rosinenaroma).

Die Sonne geht erst gegen 6:30 auf, also sind wir noch in der Dämmerung unterwegs, aber es ist schon ordentlich was los auf den Straßen, hauptsächlich Motorräder, meist mit zwei Personen besetzt, aber auch schon erste Lastwagen mit Containern, vermutlich aus Cartagena kommend. Der Wettergott meint es gut mit uns und schenkt uns heute einen bedeckten Himmel bis kurz vor 12 Uhr mittags. Viktor leidet dadurch deutlich weniger als gestern noch. Die Schwüle der Karibik treibt seinen Ruhe-Blutdruck regelmäßig auf 150 bis 170 mmHg, was uns etwas Sorge bereitet, aber der diastolische Wert bleibt zum Glück immer schön zwischen 70 und 80 mmHg.

Am Anfang geht es durch kleinere Palmöl-Plantagen. Wir sehen einen Erntearbeiter auf seinem Motorrad mit dem typischen langen Erntewerkzeug mit sichelförmiger Klinge am oberen Ende. An einer Straßenecke steht ein vollbeladener LKW mit den Ölfrüchten. Schließlich kommen wir an einer Ölmühle vorbei, an der wir endlich auch mal die faserigen braunen Reste des Pressvorgangs fotografieren können, die wir schon in Costa Rica gesehen hatten.

Ölmühle

Während der ersten Stunde beginnt es sogar einmal zu regnen, zunächst nur eine willkommene Abkühlung, dann etwas stärker, aber die Regenkleidung lassen wir in unseren grünen Packtaschen. Stattdessen legen wir eine Frühstückspause mit dem „leckeren“ Traubenbrot unter dem riesigen Blätterdach eines Baumes an einem der „Reductores“ ein und beobachten Lastwagen dabei, wie sie wahlweise mit vollem Tempo darüber hinwegrasen oder langsam hinüberschleichen. Nach der Pause hat der Regen auch schon wieder aufgehört.

Es geht auf gut asphaltierten Straßen mit erstaunlich wenig Schlaglöchern (dafür umso mehr ziemlich ekelig hohe und steile „Reductores“ an Überwegen und Schulen) weiter durch großzügiges, sattgrünes Weideland mit Rindern. Dazwischen sind immer mehr Feuchtgebiete und Waldstücke eingestreut, in denen den Schildern nach zu urteilen Faultiere und Ameisenbären leben. Wir bleiben öfter als sonst üblich stehen und machen Fotos. Vom Rad hören wir laute Froschkonzerte (siehe Video) – Jutta hat sofort und den ganzen Tag den Kanon im Ohr: Heut ist ein Fest bei den Fröschen am See (höre Link)-, sehen unglaublich viele Fischreiher (kleinere und größere) und hören in der Ferne zum ersten Mal seit längerer Zeit auch wieder Brüllaffen. Ein Fischreiher fliegt vor uns einen wunderschönen langen Bogen über unsere autofreie Straße und entleert sich dann ganz knapp vor einem entgegenkommenden Fahrzeug in einem langen weißen Strich, der die Straßenmarkierungen etwas unkonventionell ergänzt. Wir müssen schmunzeln. Der mag die Autos fast so sehr wie wir. Aber ohne sie hätten wir wohl keine ordentlich asphaltierten Straßen für unser Tandem und keine Tankstellen mit Eistruhen und Klimaanlagen.

Heut‘ ist ein Fest bei den Fröschen am See.
Faultierbrücke und „Wo sind die Brüllaffen?“

Leider sehen wir heute auch zum ersten Mal etwas, dass wohl auf so einer Tour fast unvermeidbar ist. Vor unseren Augen wird auf der Gegenfahrbahn ein Hund überfahren und wir hören und sehen leider den gesamten Vorgang. Wir können einfach nicht umdrehen, weil der Anblick zu schlimm war. Der Führer des LKW macht nach unserem Eindruck aber auch keine Anstalten, stehen zu bleiben.

Bei der zweiten längeren Pause treffen wir zwei Polizisten der Policia Nacional, die das Tandem und unsere Tour interessiert. Sie raten uns dringend, die Bergetappe von Caucasia nach Medellin nicht mit dem Tandem zu unternehmen. Die Steigungen seien extrem, es gäbe sehr viel Lastwagenverkehr und es sei dort auf der gesamten Strecke immer sehr nebelig, die Unfallgefahr daher sehr hoch. Sie empfehlen uns für die Strecke, auf einen Bus umzusteigen. Abends fragen wir in der WhatsApp-Gruppe VIBICO (VIajeros en BIcicleta por COlombia) nochmal nach, und die sehen das natürlich alle viel entspannter und laden uns gleich ein, bei einem „Anfitrion“ (Gastgeber) auf halber Höhe (Passhöhe nach Medellin: 2.788 Meter) zu übernachten.

Während dieser Pause versucht Viktor auch die Rohloff-Schaltung wieder richtig einzustellen, denn wir fahren offenbar seit Cartagena nur noch mit 13 statt 14 verfügbaren Gängen. Beim Einbau des Hinterrades muss irgendwas schiefgegangen sein. Viktor stellt mit dem 8er-Maulschlüssel die Schaltung auf den 14. Gang und den Schaltgriff ebenso auf die zugehörige Endposition. Dann wird die Schaltbox wieder aufgesetzt und beim Durchzählen sind alle 14 Gänge wieder verfügbar.
Ergänzung vom nächsten Tag: Irgendwas stimmt immernoch nicht. Es sind wieder nur 13 Gänge verfügbar.

Kurz vor Schluss kommen wir auch noch fast nach Berlin.

Die letzten 15 Kilometer werden wieder etwas beschwerlicher, da feucht-wärmer, aber wir kommen ziemlich genau um 12 Uhr in Tolú in unserem Hotel an, das uns positiv überrascht. Es hat seit einem Jahr eine neue Bewirtschaftung und das Ehepaar ist super freundlich und kundenorientiert. Viktor kann in den Pool springen und wir haben am Nachmittag Zeit, den Ort zu erkunden, einen Malteada de Café (Milchshake) an der Strandpromeade zu trinken und zu entspannen.

Auf Wunsch bekommen wir um Punkt 18:00 Uhr im Hotel ein Abendessen serviert, dass uns für gestern entschädigt. Wir unterhalten uns mit der Betreiberin und sie verrät uns das Geheimnis ihrer Großmutter für die Zwiebeln im Avocado-Tomaten-Salat (Zwiebeln mit Salz, Pfeffer, Zitrone und ein wenig Essig für eine Stunde in den Tiefkühler stellen).

Und noch aus unserer Serie „unbekannte Straßenschilder“:

Was könnte das Schild bedeuten? Wir nehmen Antworten in den Kommentaren entgegen.

Sonntag 11.8.24 – (078) – Santiago de Tolú – Lorica

Gesamt: 4.814,66 km

Als wir um fünf aufstehen, gewittert es, und der Regen hört auch bis sechs nicht auf. Wir haben uns für heute nur knappe 50 km vorgenommen, warum sollten wir da im Regen losfahren? Also vertreiben wir uns die Zeit im Innenhof, in der Hoffnung auf ein baldiges Ende. Um nach sieben essen wir schon einmal ein wenig Brot, dann ist das Essensthema wenigstens schon durch. Und gegen viertel vor acht hat der Regen soweit aufgehört, dass wir uns auf den Weg machen. Wie jedes Mal stehen die Straßen zum Teil unter Wasser. Es spritzt ganz schön – das Rad, die Taschen und die Deutschlandflagge (und sogar Viktors Camelbak) sind nach kurzer Zeit völlig verdreckt.

Zu Beginn geht es die Küste entlang an einem Hotel nach dem anderen. Namen wie „Playa“, „Palma“, „Azul“, „Blue“, „Bleu“ wiederholen sich. Überall stehen Reisebusse in den Einfahrten. Wir fahren einfach hindurch, ohne groß anzuhalten, und kommen schnell voran. In Coveñas halten wir zum Kaffeetrinken an, auch wenn erst eine Stunde gefahren ist. Wir sind ja schon ein paar Stunden auf den Beinen. Anschließend kommt schnell der Abschied vom Atlantik (Tagesbild oben): bei El Porvenir geht die Straße von der Küste weg, und wir werden jetzt wohl nicht mehr an diese stoßen – erst irgendwann wieder am Pazifik, vermutlich in Ecuador. Das war ein relativ kurzer Spaß mit der Karibik!

Es geht durch grünes Weideland, ein wenig auf und ab, und wir fahren ohne weitere Pause bis Lorica, kommen schon um halb zwölf dort an. Weil es so sehr früh ist, setzen wir uns erst in eine Panaderia und Heladeria (der Laden darf sich Eisdiele nennen, verkauft aber neben Brot und Kuchen nur abgepacktes Eis am Stiel). Obwohl, oder vielleicht auch gerade weil, es Sonntag ist, ist die Straße völlig mit Motorrädern überfüllt. Der Motorenlärm mischt sich auch noch mit lauter Musik, die anscheinend jeder einzelne Laden oder Stand hier abspielt – es dröhnt uns in den Ohren. Irgendwann haben wir genug und checken im „Hotel Hausen“ ein. Das liegt auch an der Hauptstraße, ist oberhalb von Geschäften und hat keinerlei Platz, wo wir das Tandem abstellen können. Die Läden haben heute geschlossen, und es gibt sowohl Kameras, die den Bereich 24 Stunden überwachen als auch eine Polizeistation schräg gegenüber, also parken wir einfach vor dem Nachbarladen, etwas versteckt hinter einer Säule.

Nach der guten Erfahrung gestern ist es in dieser Stadt wieder eher nicht so einfach, etwas zu finden, wo wir essen gehen möchten, obwohl es angeblich viele Restaurants geben soll. Wir machen uns zwischen drei und vier (nach einem Nickerchen des Captains) auf den Weg in den Ortskern, ca. 1,5 km entfernt. Dort finden wir eine relativ menschenleere Markthalle direkt am Fluss Sinú vor sowie viele geschlossene Läden und Restaurants. Es ist eben Sonntag. Am Wasser ist es aber recht schön und wir genießen die Aussicht und sehen viele Fischreiher, die hier einfach zum Stadtbild gehören.

In der Nähe lungern einige ziemlich alkoholisierte und teilweise recht laute Männer herum. Ein älterer Mann stürzt beim Versuch, sich in einen Plastikstuhl zu setzen, direkt vor Viktor auf den Boden. Jutta vermutet kurz einen Trickdieb, aber es ist niemand anderes in der Nähe und der Typ kommt alleine echt nicht mehr hoch. Also zieht Viktor ihn wieder auf die Beine und und setzt ihn in den Platikstuhl im Schatten.

Eine Panaderia hat immerhin geöffnet, wir trinken dort einen Kaffee und Viktor bestellt ein Blätterteig-Gebäckstück, das mit „Arequipe“ gefüllt sein soll. Es stellt sich als das schon bekannte „Dulce de Leche“ heraus (karamellisierte süße Kondensmilch), das in Kolumbien schon wieder den Namen gewechselt hat. Die anderen Restaurants öffnen nach Aussage einer Bedienung erst gegen 18:00 Uhr, also kurz vor Sonnenuntergang. Den Rückweg zum Hotel möchten wir aber lieber nicht im Dunkeln gehen.

Gebäckstück mit „Arequipe“

Auf dem Rückweg ins Hotel finden wir dann doch noch einen richtig netten Foodcourt direkt an der Hauptstraße. Die Stände und die Möbel sind aus Palettten gezimmert, aber sogar lackiert und gepolstert. Im Angebot sind Burger, Pizza, Fleisch von einer Grillstation und noch einiges mehr. Es gibt eine zentrale Kasse, jeder kann von den unterschiedlichen Ständen bestellen und bekommt es am Platz serviert. Für uns geht das Konzept perfekt auf, eine vegetarische Pizza mit Wasser und eine „Hamburguesa Alemana“ mit Bier („Deutscher Hamburger“ mit Berliner Wurst … oder dem was sie sich hier unter Berliner Wurst vorstellen).

Wir gehen satt, zufrieden und müde kurz vor Sonnenuntergang ins Hotel zurück. Unser Tandem durften wir vor dem Losgehen noch direkt vor die Türe des Hotels stellen, damit die nächtliche Security es im Auge hat.

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